Die Rückkehr der scheußlichen
SCHUNDGRUBE
Bahnhofskino & Grindhouse – Ein historischer Abriss, Teil 2
Was
dem einen sein Kaviar, ist dem andern sein Stuhl – und was dem
Deutschen sein Bahnhofskino,
ist dem Ami sein Grindhouse.
Bis
vor circa vier Jahren wusste kein Mensch in Deutschland, was der
Begriff „Grindhouse“ überhaupt bedeuten soll – außer
vielleicht einer Handvoll enthusiastischer Filmfreaks, die sich
bereits ausgiebig mit der B-Movie-Ära der 60er, 70er und frühen
80er Jahre in Amerika auseinandergesetzt hatten. Denn wer sich in
diesem subkulturellen Kosmos bewegte, kam an dem Ausdruck nicht
vorbei: Grindhouses – das waren jene berüchtigten, verrufenen,
schmierigen Billigkinos, welche die 42nd Street in New York säumten
und vor allem Exploitationfilme und Pornos zeigten. Natürlich gab
es solche Grindhouses auch in allen anderen amerikanischen
Großstädten, aber ihre Wiege steht nicht etwa in Glitzerstadt Los
Angeles, sondern im Big Apple.
Über
die Herkunft des Namens ist sich die Schmutz & Schund-Forschung
übrigens uneinig: Die einen behaupten, der Begriff leite sich von
den damaligen Burlesque-Theatern ab, in denen sogenannte
„Bump’n’Grind“-Tanzshows und Striptease-Nummern aufgeführt
wurden, die anderen führen die Bezeichnung auf die Qualität der
gezeigten Filmkopien zurück, die nach endlosen Schleifen in
minderwertigen Projektoren und unsachgemäßer Behandlung durch
Vorführer schließlich total zerschlissen und aufgerieben wurden.
Denn nicht nur der Inhalt der Filme zeichnet einen typischen
Grindhouse-Streifen aus, auch der mehr oder minder desolate Zustand
des Zelluloids kennzeichnet einen waschechten Vertreter seiner
Zunft: Laufstreifen, Kratzer, Brandschäden, Löcher, defekte
Klebstellen und Anschlussfehler gehören maßgeblich zum originären
Filmgenuss und verursachen bei manchen Liebhabern wahre Wonneschauer
der Nostalgie.
Man
kann davon ausgehen, dass die wirklichen Ursprünge der Grindhouses
noch weit tiefer in der Vergangenheit zu suchen sind, nämlich bei
fahrenden Schaustellern und Wanderzirkussen, deren Palette von
Attraktionen auch stets ein „Adult-Tent“ umfasste, das meistens
am äußersten Ende der Vergnügungsmeile aufgestellt wurde. Dort
wurde dem zahlenden, größtenteils männlichen Publikum sowohl
„Live-Shows“, als auch – sobald dies im Rahmen der Möglichkeit
stand – bewegte Bilder vorgeführt. Zu Beginn waren dies Laterna
Magica-Shows oder Fotografien, die per „Daumenkino“-Technik zum
Leben erweckt wurden, aber rasch wurde auch vom modernen Medium der
Filmvorführung Gebrauch gemacht – und deren nicht zu
unterschätzender Marktwert erkannt. Hier galt dasselbe, was auch
schon zum Bahnhofskino geschrieben wurde: Sex sells… and so does
Violence.
Für
die Einverleibung des Begriffs in den neu-deutschen Sprachgebrauch
zeichnet vor allem der Regisseur Quentin Tarantino verantwortlich,
der 2007 gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Robert Rodriguez
das „Grindhouse“-Projekt aus dem Boden stampfte: Ein
Doppelprogramm, bestehend aus zwei Genrefilmen (DEATH PROOF &
PLANET TERROR), die nicht nur thematisch an die Exploitation-Ära
der 70er anknüpften, sondern auch das gesamte Flair der
Abspielstätte transportieren sollten: Das Filmmaterial wurde
nachträglich manipuliert und verfremdet, man fügte am
Schneidetisch und am Computer die kennzeichnenden Kratzer und
Verunreinigungen hinzu, baute – scheinbar ungewollte –
Filmrollenverluste und Anschlussfehler mit ein. Obendrein
beauftragten Tarantino & Rodgriguez eine Handvoll befreundeter
Filmemacher, um einige Fake-Trailer herzustellen – Vorschau-Clips
zu Filmen, die gar nicht existierten und die man als Pausenfüller
zwischen den beiden Hauptfilmen zeigte. (Zumindest im Fall von
Rodriguez’ eigenem Trailer zu MACHETE folgte der komplette
Spielfilm drei Jahre später dann doch).
Hier
ging es also nicht nur darum, die Filme als solche abzufeiern,
sondern das Gesamtgebilde Grindhouse zu verherrlichen: das Erlebnis
des kollektiven Filmanschauens in einem übel beleumundeten
Lichttheater, die schmierige Atmosphäre des Verbotenen, das
schadhafte Zelluloid – ein nostalgischer Tauchgang in der
Schundgrube.
Ob
ihnen dieses hehre Unterfangen nun gelungen ist oder nicht, mag
dahingestellt bleiben; eines ist jedoch sicher: Jeder
Durchschnitts-Kinogänger und Videothekenkunde kannte plötzlich den
Terminus „Grindhouse“. Es galt mit einem Mal als „hip“ und
„kewl“, wenn man in Diskussionen an Studentenstammtischen mit
Filmtiteln wie DIE FLIEGENDE GUILLOTINE, EIN ZOMBIE HING AM
GLOCKENSEIL oder DIE AUF HEISSEN ÖFEN VERRECKEN um sich werfen
konnte – freilich ohne die dazugehörigen Filme je gesehen zu
haben. Die Schar der Exploitationfreunde, die innerhalb ihres
elitären Eilands jahrzehntelang ein unbemerktes Schattendasein
geführt hatte, nahm die neue Entwicklung mit gemischten Gefühlen
auf; manche freuten sich über die Tatsache, dass im Fahrwasser des
Hypes vergessene B-Filmjuwelen wieder veröffentlicht und einem
jungen Publikum nahegebracht wurden, andere fühlten sich in ihrem
Elfenbeintürmen vom Pöbel belästigt und mussten mit ansehen, wie
sich der Feuilleton-Sauhaufen gierig auf die Perlen stürzte, die
Tarantino ihnen vorgeworfen hatte.
Was immer man von
Tarantino halten mag, eines kann als sicher gelten: Der Mann ist ein
glühender Fan der Grindhouse-Ära, ein Vollblut-Nerd, dessen
sämtliche Filme gespickt sind mit Zitaten aus B-Movies und
Exploitationfilmen, von den 50er bis in die frühen 80er Jahre. Es
ist jedoch stark davon auszugehen, dass er selber niemals in einem
„echten“ Grindhouse gewesen ist, sondern sich die obskuren Filme
im sicheren Hafen der Videothek anschaute, in der er jahrelang als
Aushilfe jobbte.
Vieles,
was bereits zum Bahnhofskino geschrieben wurde, trifft auch auf die
amerikanischen Grindhouses zu. Gezeigt wurden größtenteils
Double-, manchmal auch Triple-Features. Häufig waren die
Abspielstätten rund um die Uhr geöffnet, die Filme liefen in einer
Dauerschleife. Anders als bei ihren deutschen Vettern, waren sie
nicht an einen Ort gebunden, befanden sich jedoch häufig in den
„verruchten Vierteln“ der Stadt – in Hafengegenden, in Gettos,
an der Rotlichtmeile. Nicht selten handelte es sich um ehrenwerte
alte Filmpaläste, die in den Ruin getrieben worden waren und nun
auf die Vorführung handfesterer Zelluloidware zurückgreifen
mussten, um ihr Überleben zu sichern. Hier wie dort fand man die
Regenmantel-Brigade, die jugendlichen Fummelpärchen in der letzten
Reihe, die Stricher und Bordsteinschwalben, die schlaflosen
Geschäftsreisenden, denen es nach billigem Nervenkitzel gelüstete.
Auch die Filmauswahl ähnelte sich aufs Haar, war teilweise
identisch: Auch in den US-Schundkinos griff man gern und häufig in
den europäischen Warenkorb, zeigte Italowestern, französische
Sexklamotten, Jess Franco-Filme oder Zombiereißer. Ebenfalls
beliebt waren die günstigen Kung Fu-Massenproduktionen aus Hongkong
oder spanische Gruselschinken mit Paul Naschy.
Einer
der größten und bedeutendsten Unterschiede zu Deutschland bestand
darin, dass in den USA regelrecht für den Grindhouse-Markt
produziert wurde. Kleinst-Produktionsfirmen kurbelten im
Fließbandverfahren preisgünstige Schnellschüsse herunter, in
denen die niederen Instinkte der anvisierten Zuschauergruppe bedient
wurden. Diese Strategie wurde bereits erfolgreich seit den späten
40er Jahren praktiziert – anfangs handelte es sich noch um
getarnte Lehrstücke mit moralischem Zeigefinger (was natürlich nur
ein Vorwand war, um sich in exzessiven Schauwerten zu suhlen).
Hierzu gehören die zahlreichen (Anti-)Drogen-Filme, wie NARCOTICS
("One Night of Bliss . . . A Thousand Nights of
Hell!"), REEFER MADNESS oder MARIJUANA – THE DEVIL’S WEED,
aber auch „Aufklärungsfilme“ über das ausschweifende Leben der
verdorbenen Jugend wie TEENAGE DEVIL DOLLS (1955), JUVENILE JUNGLE
(1958) oder LIVE FAST, DIE YOUNG (1958…„The sin-stepped Story of
today’s Beat Generation!“), bis hin zu filmischen Ehe-Ratgebern,
wie MOM & DAD (1944), wo eine klinische Geburt in allen Details
gezeigt wurde. Die Abendröte der 50er Jahre markierte gleichsam die
Geburtsstunde eines der meist profilierten Handwerkern unter
Amerikas Nudisten-Filmern: Russ Meyer trat auf den Plan und
bescherte den Grindhouse-Leinwänden eine nicht enden wollende
Lawine aus widerlichen Voyeuren, randalierenden Rednecks,
schnittigen Sportschlitten, eskalierender Action, grotesker Gewalt
und, vor allem, majestätischen Möpsen! Letztere wurden nur noch
von der unvergleichlichen Chesty Morgan überboten, die durch die
Filme DEADLY WEAPONS („Teuflische Brüste“, 1973) und DOUBLE
AGENT 73 („Ein superheißes Ding“, 1974) von Doris Wishman
unsterblich wurde.
Ein
weiterer Stammlieferant für die Grindhouses war James H. Nicholson
und Samuel Z. Arkoffs Produktionsfirma AIP, die sich als
willkommener Übungsplatz für eine ganze Generation junger
Filmemacher erwiesen, die mit Roger Cormans Billigproduktionen ihre
ersten Schritte ins Big Business von Hollywood unternahmen. Bei den
Grindhouses fanden diese B-Movies reißenden Absatz und wurden
oftmals schon vor Drehbeginn nur aufgrund ihrer Titel
verkauft. Etliche Regisseure, die heute zu den größten ihrer Zunft
gehören, erwarben sich ihre Meriten bei Corman, so z.B. Martin
Scorsese mit BOXCAR BERTHA („Die Faust der Rebellen“, 1972),
James Cameron mit PIRANHA II: THE SPAWNING („Fliegende Killer –
Piranha 2“, 1981), Jonathan Demme mit CAGED HEAT („Das Zuchthaus
der verlorenen Mädchen“, 1974) oder CRAZY MAMA („Verrückte
Mama“, 1975), Peter Bogdanovich mit VOYAGE TO THE PLANET OF
PREHISTORIC WOMEN (1968) und Francis Ford Coppola mit DEMENTIA 13
(1963).
Der
große Erfolg der asiatischen Karatefilme bei der afroamerikanischen
Bevölkerung in den Vorstadtsiedlungen, leistete bald einem neuen
Subgenre Vorschub, das einen triumphalen Siegeszug durch die
Grindhouses antreten sollte: Blaxploitation. Als Reaktion auf die
Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten schossen zahlreiche
unabhängige Filmproduktionen aus dem Boden, die das neue
Selbstbewusstsein der afroamerikanischen Bevölkerung zum Thema
hatten. Die Filmindustrie erkannte die Möglichkeiten dieses neuen
Marktsegments und konzentrierte sich zunehmend auf „schwarze“
Inhalte, die vor allem die Angehörigen der gettoisierten
Unterschicht ansprechen sollten. Emanzipatorische Botschaften und
eine schonungslose Darstellung der politischen Realität in den
Slums wurden jedoch zumeist nur als Aufhänger genutzt, um markigere
Ingredienzien auf die Leinwand zu buttern: Harte Gangsterstorys mit
expliziten Darstellungen von Sex & Gewalt.
Das Blaxploitation-Genre
wurde auch vorwiegend von schwarzen Schauspielern, Autoren und
Regisseuren beackert. Als Aushängeschilder dieser Filme galten u.a.
der Regisseur Melvin van Peebles (der 1970 den ersten
afroamerikanischen Autorenfilm SWEET SWEETBACK´S BADAAAASSS SONG
drehte), die Schauspieler Richard Roundtree (SHAFT, 1971), Fred
Williamson (HELL UP IN HARLEM / „Heiße Hölle Harlem“, 1973
oder THREE THE HARD WAY / „Drei eiskalte Profis“, 1974) und die
schwarze Göttin des Exploitationfilms, Pam Grier (COFFY / „Coffy
– die Wildkatze“, 1972, oder den vorliegenden WOMEN IN CAGES /
„Frauen hinter Zuchthausmauern“, 1971). Letzterer wurde übrigens
auch von Roger Corman produziert, womit ein weiterer Kreis sich
schließt…
Das
Grindhouse war auch das große, verwirrende Zwielichtreich der
Umbenennungen, Neubetitelungen und alternativen Schnittfassungen.
Der relativ biedere Voodoo-Streifen ZOMBIES (1964) wurde umgetauft
in I EAT YOUR SKIN, um ihn in ein Doppelprogramm mit dem
Hippie-Splatter-Vehikel I DRINK YOUR BLOOD („Die Tollwütigen“,
1971) zu quetschen. Karen Arthur’s THE MAFU CAGE („Der
Mafu-Käfig“, 1978) erfuhr eine Neuveröffentlichung unter dem
Titel DON’T RING THE DOORBELL, denn das passte besser zu DON’T
GO IN THE HOUSE („Haus der lebenden Leichen“, 1980) oder DON’T
OPEN THE WINDOW („Leichenhaus der lebenden Toten“, 1974). Am
Rande: Ein gelungener Seitenhieb auf Filmtitel dieser Sparte ist der
enorm unterhaltsame Fake-Trailer DON’T! von Edgar Wright.
Es geisterten zahllose
verschiedene Schnittfassungen von ein und demselben Film durch die
amerikanischen Schmuddelkinos: Sergio Leones GIÙ LA TESTA
(„Todesmelodie“, 1971) ist ein vollkommen anderer Film als die
stark gekürzte und neumontierte Grindhouse-Version A FISTFUL OF
DYNAMITE. Aus den ersten beiden Spielfilmen der japanischen
OKAMI-Reihe schnitt der gewiefte Produzent Robert Houston dreist
einen eigenen Film namens SHOGUN ASSASSIN („Henker des Shogun“,
1980) zusammen – ein Dauerbrenner im Grindhouse. Und obwohl der
legendäre Kung Fu-Star Bruce Lee während seiner kurzen Laufbahn
als Leinwandheld insgesamt nur fünf vollständige Spielfilme
drehte, geisterten jedoch Dutzende von flugs zusammengeschusterten
Billigstreifen durch die Lichtspielhäuser, die seinen Namen im
Vorspann oder auf dem Plakat führten. Die meisten waren
Neu-Zusammenschnitte der bereits existierenden Filme oder No
Name-Flicks, in die man Szenen mit dem Original-Bruce schlampig
einfügte; aber es gab auch etliche Epigonen und Nachahmer, die auf
einfallsreiche Namensvariationen hörten, wie Bruce Li, Bruce Lei
oder Bruce Le. Selbst dafür fand sich ein eigener Begriff:
Bruceploitation.
Spätestens
ab Mitte der 1980er Jahre erging es den Grindhouses in Amerika
ebenso, wie den Bahnhofskinos in Deutschland: Die große goldene Ära
der Schmuddelkinos war vorüber – das Zepter wurde an die
Videoindustrie weitergereicht. Nun konnte jeder sich die verbotenen
Zelluloidfrüchte bequem als Kassetten in die eigenen vier Wände
holen und war nicht länger gezwungen, mit hochgeklapptem
Regenmantelkragen in die verruchten Kinos zu schleichen. Ein
Grindhouse nach dem anderen schloss seine Pforten und rollte die
Leinwände ein. Am Ende des Jahrzehnts waren die Schundfilmtempel
vom Times Square und der 42nd Street in New York, vom Hollywood
Boulevard in Los Angeles und von der Market Street in San Francisco
verschwunden. Was übrigblieb, sind die Drive In-Theater des
mittleren Westens, in denen sich ein Abglanz der „echten“
Grindhouses erhalten hat.
Heutigentags
haben wir, die Filmbegeisterten und Freunde abseitiger B-Movies, es
deutlich besser. Denn zu unserem maßlosen Glück gibt es kleine,
enthusiastische Labels wie SUBKULTUR ENTERTAINMENT, die selber von
Freaks und Fans dieser Filme betrieben werden und die weder Mühen
noch Kosten scheuen, uns mit vergessenen Perlen des Bahnhofskinos
und des Grindhouse zu versorgen. Keep on cummin‘!
Pelle Felsch
Quellennachweise
Eddie Muller, Daniel Faris: Grindhouse – The Forbidden World of "Adults Only" Cinema, Saint Martin’s Press Inc., 1996
Eddie Muller, Daniel Faris: Grindhouse – The Forbidden World of "Adults Only" Cinema, Saint Martin’s Press Inc., 1996
Dieser
Artikel erschien erstmals als Booklet der Grindhouse-Collection DVD
Nr.3 von Subkultur Entertainment © 2011.