Filmclub Bali
   
 

NACKT ÜBER LEICHEN

(„Una sull' altra”, Italien/Frankeich/Spanien 1969) R: Lucio Fulci

Dr. George Dumurrier (Jean Sorel) ist ein smarter Arzt und Klinikleiter, der seine asthmakranke Frau Susan (Marisa Mell) mit der Fotografin Jane (Elsa Martinelli) betrügt. Während er sich – unter dem Vorwand, eine Geschäftsreise unternehmen zu müssen – mit Jane vergnügt, stirbt Susan an einem Anfall. Seine lästige Gattin steht ihm nicht länger im Wege, gleichzeitig erbt er die stolze Summe von 2 Millionen Dollar – ein glücklicher „Zufall”, der das Interesse der Behörden weckt. Kurze Zeit später lernt er in einem Nachtclub die geheimnisvolle Stripperin Monica (auch Marisa Mell) kennen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Ehefrau hat. Die Dinge fangen an, sich zu verkomplizieren, bis sie auf dramatische Weise aus dem Ruder laufen…
Nackt über Leichen
Wer Lucio Fulci nur als „Godfather of Gore” kennt und seine Zombie-Epen als Messlatte ansetzt, wird bei der Sichtung dieses nahezu unbekannten Kleinods mit gelinder Überraschung reagieren. Im Jahr 1969 gedreht, stellt dieser kleine feine Thriller den ersten Ausflug des Regisseurs ins Giallo-Genre dar. Schwarze Handschuhe und blitzende Rasiermesser sollte man hier allerdings nicht erwarten, stattdessen orientiert Fulci sich offenkundig an Suspense-Großmeister Alfred Hitchcock – und speziell an seinem großartigen VERTIGO. Von einem Plagiat kann jedoch nicht die Rede sein, denn nach anfänglichen Ähnlichkeiten und Parallelen, unternimmt die Handlung eine eigenständige Wende und verläuft in eine ganz andere Richtung. Viel mehr werde ich an dieser Stelle nicht verraten, denn der Zuschauer sollte sich diesen komplexen Psycho-Krimi selbst erschließen – das vorzügliche Drehbuch wartet mit zahllosen Twists, Wendungen und Überraschungen auf. Nach den ersten, recht gemächlichen 20 Minuten des Films, dreht Fulci kontinuierlich an der Spannungsschraube und serviert immer neue Unvorhersehbarkeiten, die den Rezipienten angenehm bei der Stange halten.
Besonders in optischer Hinsicht ist UNA SULL' ALTRA ein Hochgenuss. In die typisch knallig-bunte Farbpalette und psychedelischen Kulissen der ausgehenden Swingin' Sixties getaucht, erzeugt der Film eine spannungsgeladene Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und der inneren Kühle seiner Protagonisten. Die innovative Kameraführung geizt nicht mit außergewöhnlichen Einfällen: unkonventionelle Perspektiven (die Kamera filmt aus dem Inneren eines Medizinschrankes oder beobachtet eine Liebesszene durch den rötlich schimmernden Untergrund eines Bettes), reizvolle Ausleuchtung (gekonntes Jonglieren mit Licht, Schatten und Primärfarben) und faszinierende visuelle Spielereien (multiple Split-Screen) werden verhäuft eingesetzt, dienen jedoch an keiner Stelle dem Selbstzweck, sondern fügen sich perfekt in die Narrative ein. Auch die – gemessen am Entstehungsjahr 1969 – äußerst freizügigen Sexszenen wurden von Fulci ungemein ästhetisch und souverän auf Zelluloid gebannt.
Jean Sorel (MALASTRANA) spielt den selbstsicheren Frauenschwarm, dem immer mehr der Boden unter den Füßen weggezogen wird, sehr glaubwürdig und belebt seine Figur mit dezentem Understatement. Auch in dieser Hinsicht steht der Film ganz in der Tradition Hitchcocks – mit großen Augen und zunehmender Irritation muss Dr. Dumurrier mit ansehen, wie seine heile Welt in Scherben zerfällt. Bei Marisa Mell (GEFAHR: DIABOLIK, DER TOLLWÜTIGE) spalten sich bekanntermaßen die Meinungen: Mir fiel bei diesem Film zum ersten Mal auf, daß sie nicht wirklich eine schöne Frau ist, sogar etwas subtil Abstoßendes an sich hat, was jedoch die Laszivität und Gefährlichkeit ihrer Filmfigur unterstreicht. Eine hervorragende Schauspielerin ist sie allemal. Auf kongeniale Weise verkörpert sie in UNA SULL' ALTRA sowohl die verbitterte Asthmakranke, als auch die verruchte Stripperin und verleiht beiden Charakteren eine feine Nuancierung.
Für mich persönlich steht fest: Der Höhepunkt von Lucio Fulcis Filmkarriere lag zwischen der Mitte der 60er und dem Anfang der 80er Jahre. Die Blutwurst-Fanatiker, die Fulci lediglich auf sein später entstandenes Gedärme-Gewühl reduzieren, verschließen leider häufig die Augen vor seinen wunderbaren Gialli und Thrillern, die zum besten gehören, was das Genre hervorgebracht hat. Vielleicht hätte er spätestens bei LO SQUARTATORE DI NEW YORK einen Schlusspunkt setzen sollen, dann wäre uns zumindest erspart geblieben, Zeugen eines traurigen Niedergangs zu werden.
Die amerikanische DVD von Severin (unter dem Titel: PERVERSION STORY) präsentiert den Film in seiner bis dato längsten und vollständigsten Fassung. Zumindest wurden circa 4 Minuten erotischer Szenen wieder eingefügt, die in allen anderen Versionen bislang fehlten. Leider glänzen auch hier 10 Minuten an Handlungsszenen mit Abwesenheit. Sehr lobenswert ist aber die Dreingabe einer Extra-CD mit dem sehr schönen, teils jazzigen, teils melancholischen Soundtrack von Riz Ortolani.
Kurzum: Ein kleines Juwel, das die (Wieder-)Entdeckung wert ist und jedem Freund des italienischen Thrillers wärmstens ans Herz gelegt werden sollte.
- Pelle -





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