STADT DER GEWALT
("San suk si gin", Hongkong 2009) R: Derek Yee Tung-Sing
Tokio
Anfang der 90er Jahre: Tietou (Jackie Chan), was übersetzt
soviel wie "Steelhead" heißt, kommt auf der Suche nach
seiner Verlobten Xiu Xiu (Xu Jinglei) mit einer ganzen Schiffsladung
weiterer Flüchtlinge als illegaler Einwanderer nach Japan. Zwar
findet er rasch Anschluss an einen familiären Haufen von
chinesischen Landsleuten, bald wird ihm aber schmerzhaft bewusst,
dass das Leben als Chinese in Tokio kein Zuckerschlecken ist.
Zunächst hält er sich mit mies bezahlten Nebenjobs über
Wasser und bessert schließlich sein karges Gehalt mit kleineren
illegalen Geschäften auf. Während einer Razzia rettet er
dem Polizisten Kitano (Naoto Takenaka) das Leben und findet in ihm
einen Günstling, der Tietou trotzdem unmissverständlich
warnt, sich aus den Kreisen der Yakuza herauszuhalten. Seine
Gefolgsleute geraten unterdessen immer wieder in Konflikte mit
brutalen Gangs und Unterweltgrößen, die den verhassten
Ausländern den Erfolg missgönnen und das Territorium
streitig machen wollen. Durch einen Zufall rettet Tietou dem jungen
und ehrgeizigen Yakuzaboss Eguchi (Masaya Kato) das Leben und wird
zum Dank in dessen Organisation aufgenommen – zunächst als
Handlanger, dann sogar als Auftragsmörder. Als Gegenleistung
erhält er die Kontrolle über das Vergnügungsviertel
Shinjuku, sehr zum Missfallen anderer Gangs, der älteren
Yakuzagrößen und der konkurrierenden Taiwanesen. Obendrein
stellt sich heraus, dass Xiu Xiu die Frau von Eguchi geworden ist und
eine Tochter mit ihm hat. Trotz der Warnungen seiner neuen Freundin
Lily (Fan Bingbing) und Inspektor Kitanos, gerät Tietou immer
tiefer in den Sumpf des organisierten Verbrechens. Ein blutiger
Konflikt scheint unausweichlich...
2004 hatte
Jackie Chan eine der unrühmlichsten Etappen seiner Karriere
dankenswerterweise hinter sich gelassen: sein peinliches
Hollywood-Kapitel. Er kehrte in seine Heimat Hongkong zurück und
legte mit NEW POLICE STORY ein ungewöhnlich ernsthaftes Drama
vor. Sein neuester Streich SHINJUKU INCIDENT, wie STADT DER GEWALT im
Original betitelt ist, zelebriert diese Rückkehr zu den Wurzeln
mit einer Konsequenz und Radikalität, mit der wohl niemand
gerechnet hätte. Chan vollführt hier eine spektakuläre
stilistische Kehrtwende sowohl vom alten Image des Kung Fu-Kaspers
als auch vom bisherigen Erfolgskonzept der reinrassigen
Actionkomödie.
STADT DER
GEWALT versteht sich vielmehr als düsteres, zeitweise sogar tief
nihilistisches Immigrantendrama mit sozialkritischen Ansätzen
und einer gehörigen Portion ultrarealistischer Gewalt. Die
straffe Inszenierung von Regisseur Derek Yee verzichtet zum Glück
fast vollständig auf die typisch asiatischen Albernheiten und
erzählt die Geschichte mit grimmigem Ernst.
Obwohl der
Film sich (ganz in der Tradition von artverwandten Werken wie De
Palmas SCARFACE) viel Zeit und Raum für die Entwicklung seiner
Charaktere (die bis in die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt
sind) nimmt, legt er trotz seiner stolzen 120 Minuten Länge ein
wahnwitziges Tempo an den Tag. Wir erleben, wie Tietou sich mit
niederen Tagelöhnertätigkeiten herumplagen muss, werden auf
eindringliche (und nicht gänzlich humorlose) Weise Zeuge vom
Leben und Leiden der Einwanderer und bekommen, scheinbar beiläufig,
einen tiefen Einblick in die kulturellen Konflikte zwischen den
traditionell rassistischen Japanern und den unterdrückten
"Ausländern". Schleichend und subtil vollzieht sich die
Wandlung vom Sozialdrama zur handfesten Crimestory, deren
Grundstimmung sich zunehmend verdüstert und deren Härte
sich konsequent steigert, bis zum wahrhaft hysterischen und
niederknüppelnden Finale.
Das
Drehbuch bewegt sich in der obersten Liga, auch wenn die Prämisse
sicher nicht neu ist – die Charakterzeichnung sämtlicher
Figuren ist rundum sehr sorgfältig und stimmig gelungen. Selbst
die Nebenrollen haben ordentlich Fleisch an den Knochen: ein gutes
Beispiel wäre die Figur von Tietous schwächlichem Freund
Jie, der von einem feigen, schüchternen Pechvogel zu einem
psychopathischen, vollgekoksten Goth-Punk transformiert. Angenehm ist
auch, dass Chans Figur sich einer eindeutigen moralischen Zuordnung
und simpler Schwarzweißmalerei verweigert – Tietou will
eigentlich stets das Gute, schafft aber allzu häufig das Böse
und umgekehrt. Letztendlich ist auch er ein Feigling, ein
Emporkömmling und Opportunist, der seine Chance kaltblütig
ausnutzt.
Die
ungewohnte Ernsthaftigkeit, mit der Chan seinen Tietou versieht,
sorgt für gelinde Überraschung. Zwar sollte man keine
mimischen Überflieger erwarten, aber Jackie legt eine wackere
darstellerische Leistung aufs Parkett, die meilenweit von den
albernen Martial Arts-Clownereien seines Hollywood-Klamauks entfernt
ist. Sein autistisch-wurschtiger Gesichtsausdruck unterstreicht sehr
überzeugend die Tragik der Figur.
Das
Erstaunlichste an Jackie Chans Rolle ist aber der völlige
Verzicht auf publikumswirksame Martial Arts-Einlagen. Das Drehbuch
legt immer wieder geschickte Köder aus, und im nächsten
Moment erwartet man wirbelnde Handkanten und berstende Knochen –
doch nichts dergleichen geschieht, obwohl sich reichlich Gelegenheit
dazu böte. Im Gegenteil: Tietou kämpft verschlagen und
hinterhältig, versteckt sich, rennt um sein Leben, prügelt
ziellos mit Stöcken und Fleischerbeilen drauflos. In einer Szene
wird ihm von einem ganzen Dutzend Gegnern übelst mitgespielt –
und er wehrt sich nicht einmal.
Nicht nur
Kampfkunstakrobatik sucht man vergeblich, auch durchgestylte
Shootouts werden dem Actionfan konsequent verweigert: gekämpft,
gequält und gemordet wird mit Schwertern, Messern oder stumpfen
Waffen, wie es in der japanischen Unterwelt seit jeher Tradition ist
– ein Kniff, der die dreckige und unmittelbare Brutalität der
Gewaltdarstellungen noch steigert.
Auch der
Rest des umfangreichen Ensembles präsentiert sich in blendender
Spiellaune, und der Kenner des asiatischen Films trifft auf etliche
bekannte Gesichter. Auf der chinesischen Seite gibt es ein
Wiedersehen mit Jinglei Xu aus dem epischen Kriegerdrama THE
WARLORDS, mit Danny Wu (BLOOD BROTHERS, ONE NIGHT IN MONGKOK oder NEW
POLICE STORY), Lam Suet (PTU, MAD DETECTIVE oder BREAKING NEWS) und
Bingbing Fan (FLASH POINT, BATTLE OF KINGDOMS). Der japanische Teil
des Casts erfreut mit Namen wie Naoto Takenaka (THE GUYS FROM
PARADISE, WATERBOYS), Jack Kao (GOD MAN DOG, THE SNIPER), Masaya Kato
(SAMURAI RESSURRECTION, ARAGAMI) und etlichen vertrauten Hackfressen
aus unzähligen Yakuza-Streifen.
Der
Härtegrad von SHINJUKU INCIDENT ist, wie gesagt, nicht von
Pappe: es wird reichlich gestochen, gehackt und geblutet. Die
Inszenierung der Action und Gewalt ist dabei auf höchstmöglichen
Realismus ausgerichtet und tut zeitweise wirklich weh – obwohl
Derek Yee häufig mit dramatischen Mitteln wie Zeitlupe arbeitet,
wirkt die Darstellung an keiner Stelle künstlich oder
überstilisiert.
Auch der
kraftvolle Score, der traditionelle Elemente mit donnerndem Bombast
verknüpft, trägt zum runden Gesamtbild dieses bitteren Neo
Noir-Melodrams bei.
In seinem
Herkunftsland China verweigerten die staatlichen Zensoren dem Film
aufgrund seiner beinharten Brutalität und politischen Brisanz
eine Freigabe im Kino. Mit seiner schonungslosen Anklage gegen die
japanische Immigrationspolitik steht er somit in direkter Nachfolge
zu Kinji Fukasakus BATTLES WITHOUT HONOR AND HUMANITY und einigen
themenverwandten Filmen von Takashi Miike. Man kann der 15 Millionen
Dollar teuren Produktion nur wünschen, dass ihr in toleranteren
Ländern der Erfolg zuteil wird, der ihr gebührt.
STADT DER
GEWALT wurde von der Kritik teilweise böse gescholten, ein
Umstand, dem ich nicht beipflichten kann. Mich hat der Film auf
ganzer Linie überzeugt und prächtig unterhalten. Nachdem
bereits Van Damme mit seinem grandiosen JCVD ganz neue und
ungewöhnliche Wege beschritt, bleibt nun zu hoffen, dass auch
Jackie Chan dieser neugefundenen Linie Treue erweist.
Die DVD
von New KSM ist erfreulicherweise ungekürzt. Die Synchro ist
zwar nicht übel gelungen, der Film bezieht im O-Ton aber einen
Gutteil seiner Spannung und authentischen Atmosphäre aus den
zweisprachigen Dialogen – dem stetigen Konflikt zwischen Chinesisch
und Japanisch. Dies geht leider in der eingedeutschten Fassung
vollständig verloren.
- Pelle -
Die auf dieser Netzpräsenz veröffentlichten Filmbesprechungen haben rein
filmjournalistische Bedeutung. Das verwendete Bildmaterial dient nicht zu Werbezwecken,
sondern ausschließlich zur filmhistorischen Dokumentation.