Filmclub Bali
   
 

DAS SCHWEDENMÄDCHEN ANITA

(„Anita - ur en tonårsflickas dagbok“, Schweden 1973) R: Torgny Wickman

Die Kraft der Liebe

Anita (Christina Lindberg) fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Die Eltern verstehen das "mißratene Kind" nicht, sorgen sich vor allem um den eigenen Ruf, den sie durch das Verhalten ihrer Tochter gefährdet sehen. Immer wieder zieht es das Mädchen nach Stockholm, dort geht sie ihrer Sucht nach schnellem Sex nach, sie nimmt jeden Kerl den sie bekommen kann. Eines Tages trifft Anita auf den Psychologie-Student Erik (Stellan Skarsgård), der junge Mann hat statt Sex seine Schulter und Ohren anzubieten…
Das Schwedenmädchen Anita
"Das Schwedenmädchen Anita" ist weder ein exploitativer Reißer noch ein verquaster Problemfilm, das Werk zeigt uns ein verzweifeltes, verletztes und einsames Kind an der Schwelle zur Frau, auf der Suche nach Zuneigung, Anerkennung und sich selbst. Nebenbei entlarvt Regisseur Torgny Wickman die Verlogenheit des braven Bürgertums. Eltern die die Nase über das eigene Kind rümpfen, gleichzeitig die jüngere Schwester in den Himmel heben. Lehrer die sich über das Fehlverhalten der unzüchtigen Schülerin beschweren, dennoch höchstselbst aus der verdorbenen Quelle schöpfen. Ja, sogar Altersgenossen die zunächst gern der Versuchung nachgeben, um die "Hure" später mit Hohn und Verachtung zu konfrontieren. Auch vor der Klassischer Musik frönenden Studentenschaft um Erik schreckt man nicht zurück, dort sieht sich Anita sogar dem schlagkräftigen Übergriff einer eifersüchtigen Hysterikerin ausgesetzt. Der alltägliche Terror im Elternhaus beinhaltet übrigens keine Prügel, die lieben Erziehungsberechtigten betätigen sich ausdauernd in der Disziplin Erniedrigung per herablassender Worte, Blicke und Gesten. Wickman inszeniert teils nahezu dokumentarisch, ergreift aber trotzdem Partei, schnell gewinnt Anita die Sympathie des Zuschauers, weckt Mitgefühl, Beschützerinstinkte und Verständnis, aber hält uns auch den Spiegel vor die Nase. Sicher, die Kritik an der gutbürgerlichen Gesellschaft mag hier und da sehr plump ausgeführt sein, der Gegenpol Erik eine Spur zu großherzig und verständnisvoll anmuten. Ab und an regiert der Holzhammer, Papi platziert die Pantoffeln pedantisch vor dem Ehebett, der verantwortungsbewusste Erik verweigert einem Alkoholsüchtigen den Nachschub, die Liste wäre ohne Mühe verlängerbar. Gleichwohl regte sich bei mir kaum der Wunsch nach einem subtileren Drehbuch, der Film funktioniert trotz mancher Grobschlächtigkeit vortrefflich. Dank der anrührenden Hauptdarsteller und der gut gewählten Schauplätze bleibt der Motzkoffer verschlossen in der Ecke liegen.
Christina Lindberg verkörpert Anita in Perfektion, ich hatte nie den Eindruck sie würde ihre Rolle spielen, sie ist Anita! Mädchenhafte Zerbrechlichkeit unterstreicht die Hilflosigkeit, die Verzweiflung, die fehlende Kraft sich aus dem Abwärtsstrudel zu befreien. Ihre Attraktivität verhilft den Sexszenen (sinnvollerweise) kaum zu erotischer Wirkung, der eindringliche Nahkampf bleibt auf Suchtbefriedung reduziert, im Extremfall gar in Verbindung mit physischer Qual (das psychische Leiden ist sowieso omnipräsent). Enttäuschung und Zorn entladen sich über den eigenen Körper, werden zum mächtigen und unkontrollierbaren Bumerang, gipfeln in beginnender (fortgeschrittener?) Selbstzerstörung, die einsamen Nächte gewähren den traurigen Blick auf einen jungen Menschen ohne Selbstwertgefühl, ohne Halt. Lediglich die finale Vereinigung in Liebe sprengt die Fesseln Abhängigkeit, wird zum Akt der Erlösung. Stellan Skarsgård spielt den feinfühligen Studenten nicht minder überzeugend, ist durchaus in der Lage sich Gehör zu verschaffen, kämpft um Anitas (und die eigene) Zukunft. Eine Betrachtung der übrigen Akteure kann ich mit gutem Gewissen unterlassen. So spielen z. B. Danièle Vlaminck und Michel David (Anitas Eltern) keinesfalls schwach, bleiben aber im Gegensatz zu Lindberg und Skarsgård eher austauschbar.
Ich erwähnte bereits die gut gewählten Schauplätze, Stockholm bietet hier nicht den Ansatz eines "Venedig des Nordens". Im Gegenteil, die Stadt hat ein tristes Kleid angelegt, hüllt sich in Grautöne. Christina Lindberg wirkt in diesem Umfeld verloren, wird gleichzeitig zum Dreh- und Angelpunkt, jagt Emotionen durch Leib und Seele des Zuschauers. Spätestens der Sturz in einen billigen Tanzschuppen scheint der Anfang vom Ende Anitas zu sein, doch dann dringt er endlich zu ihr durch, ihr ganz persönlicher Ritter auf dem weißen Pferd. Egal wie heftig der Zaunpfahl vor der Nase wedelt, wie durchschaubar und gradlinig die Kritik am Spießbürgertum angelegt wurde, mich hat "Das Schwedenmädchen Anita" berührt und beeindruckt. Sogar ein eingefleischter Griesgram wie ich kann das arg plakative Ende verkraften. Was soll‘s, man muss auch mal über den eigenen Schatten des Grauens hüpfen können (wollen).
Candybox legt mit der DVD zum Schwedenmädchen einen starken Start hin. Auf diese Scheibe folgte ein weiterer Streifen mit Christina Lindberg (Verbotene Früchte der Erotik, 1971), der Titel wurde selbstverständlich umgehend meiner Sammlung zugeführt, der übliche Kurzkommentar folgt zu gegebener Zeit. "Das Schwedenmädchen Anita" kommt in einer sehr ansprechenden Verfassung daher, abseits steriler Hochglanzaufbereitungen und digitaler Filterorgien flimmert das Werk sehr "kinoartig" über den Bildschirm, die Zielgruppe wird diese Präsentation zu würdigen wissen. Der Ton liegt in deutscher Sprache vor, zusätzlich befindet sich der schwedische Originalton an Bord, deutsche Untertitel sind vorhanden. Im Bonusbereich gibt es einen Trailer und eine Bildergalerie zu sehen, die DVD ist in einer kleinen Hartbox untergebracht. Ganz, ganz dicke Kaufempfehlung! Vielen Dank für die wunderbare Veröffentlichung, liebe Candyboxer!
Wie soll ich diesen Film in das ekelhafte Zahlenraster packen? Er hat mich sehr berührt und gefällt mir sehr gut, fertig.
Lieblingszitat:
"Das ist ja ein Skandal!"
"Ach, so schlimm wird es schon nicht. Unsere Freunde sind ja keine Kinder von Traurigkeit."

Blap





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