THE NIGHT OF THE HUNTED
(„La nuit des traquées“, Frankreich 1980) R: Jean Rollin
Robert (Alain Duclos) ist
mit dem Auto auf einer Nebenstrasse unterwegs. Aus der dunklen Nacht
taucht eine junge Frau (Brigitte Lahaie) auf, die nur mit einem
Nachthemd bekleidet ist. Völlig verwirrt und verängstigt bittet
die Unbekannte um Hilfe, selbst an ihren Namen, Elisabeth, kann sie
sich nur mit Mühe erinnern. Robert nimmt die verstörte Elisabeth
in seinem Fahrzeug mit. Unbemerkt irrt eine weitere junge Frau in
der Nähe der Strasse umher, sie sucht offensichtlich nach
Elisabeth, ist völlig nackt, ebenso wirr und verzweifelt wie die
Gesuchte. In seiner Wohnung kommen sich Robert und Elisabeth
körperlich näher, doch noch immer kann sich die Verzweifelte an
nichts erinnern, sie vergisst selbst die Vorgänge der nahen
Vergangenheit. Als Robert zur Arbeit aufbricht, tauchen der Arzt Dr.
Francis (Bernard Papineau) und seine Mitarbeiterin Solange (Rachel
Mhas) auf. Sie bewegen Elisabeth dazu ihnen zu folgen, bringen sie
in ein modernes Hochhaus. In diesem Haus halten sich weitere
Menschen mit Gedächtnisverlust auf, einige der Anwesenden verfallen
darüber hinaus auch körperlich, können sich kaum noch auf den
Beinen halten. Inzwischen weilt auch Véronique (Dominique Journet)
wieder auf der rätselhaften Krankenstation, die in der vergangenen
Nacht unbekleidet durch den Wald irrte. Elisabeth fühlt sich mit
Véronique verbunden, gemeinsam will man fliehen...
Ein
kurzer Einblick in die Handlung von "La nuit des traquées",
kann nicht ansatzweise die Intensität und unbequeme Faszination
widerspiegeln, die von diesem beindruckenden Werk ausgeht. Jean
Rollin ist gewissermaßen der ungekrönte König des erotischen
Vampirfilms -oder des "etwas anderen" Vampirfilms- doch
"La nuit des traquées" beschreitet eigene Wege. Rollin
breitet von Anfang an einen Teppich der Bedrohung aus, der sich bald
wie ein eiskaltes Leichentuch um den Zuschauer schlingt, kein
Entrinnen zulässt. Der Film strahlt eine unbehagliche Kälte aus,
egal vor welcher Kulisse die Schauspieler agieren. Wenn tatsächlich
kurz ein Fünkchen Hoffnung und/oder Menschlichkeit aufglimmt, wird
dieses umgehend im Ansatz erstickt, lässt die Vorgänge letztlich
noch bitterer und depressiver erscheinen.
Es fällt mir sehr
schwer, die richtigen Worte zu finden, die diesem Film auch nur
ansatzweise gerecht werden, dabei aber gleichzeitig nicht zu viel
verraten. Die Kranken finden keinen Halt, jeder Versuch die eigene
Lage zu verbessern -oder gar zu begreifen- führt zu noch mehr
Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit. Rollin versteht es sehr
geschickt, die kalte Hochhauskulisse für seine Zwecke einzusetzen.
So führt die Flucht von Elisabeth und Véronique die Frauen zwar
tatsächlich vor die Türen des Gebäudes, doch dort erwartet sie
das Panorama der Giganten aus Beton, Stahl und Glas, seelenlose
Säulen des Schreckens. Hilfe von Ausserhalb wird notfalls mit
Gewalt unterbunden, doch wäre sie nicht sowieso völlig fruchtlos
geblieben? Die Antwort wird jedem Zuschauer klar sein, wenn er nach
knapp 88 Minuten ""La nuit des traquées" erlebt hat.
Ich schreibe ganz bewusst "erlebt". Sicher wird dieses
Werk nicht jeden Filmfreund ansprechen -das war bei Rollin noch nie
der Fall- doch der Film wird selbst Skeptiker auf irgendeine Art
berühren, nicht spurlos an ihnen vorbeiziehen.
Die
Darsteller sollen nicht unerwähnt blieben. Brigitte Lahaie zeigt
hier sehr eindrucksvoll, dass sie viel mehr kann als ihr in
HC-Produktionen abverlangt wurde. Ihr mehr und mehr ins Leere
starrender Blick, wirkt auf den Zuschauer umso stärker ein, je mehr
ihre Elisabeth aus dem Leben gleitet, tiefer in den schwarzen
Schlund der Hoffnungslosigkeit stürzt. Kaum weniger beeindruckend
gerät die Leistung der hübschen Dominique Journet, die eine
kindliche Zerbrechlichkeit ausstrahlt, wodurch die Tragik ihres
Werdegangs noch gnadenloser auf den Zuschauer einwirkt. Sehr starke
Szenen hat auch Catherine Greiner, die ansonsten überwiegend im
HC-Bereich aktiv war. Man beachte die Momente zwischen Lahaie und
Greiner, die Verzweiflung und Trauer, die sich tonnenschwer über
ein vermeintlich banales Essen legt. Die ebenfalls mit HC-Erfahrung
ausgestattete Rachel Mhas, bildet eine Art kalten Gegenpol zu den
Erkrankten, sie spielt ihren Part nicht minder intensiv und
beeindruckend. Alain Duclos wird von den Ereignissen mitgerissen,
gerät in Vorfälle, die er weder steuern noch aufhalten kann.
Bernard Papineau zeigt als skrupelloser Mediziner einen kurzen
Anflug von Menschlichkeit, doch davon sollte man sich nicht auf eine
falsche Fährte locken lassen, nicht auf ein Licht am Ende des
Tunnels hoffen.
"La nuit des traquées" lässt
viel Raum für Interpretationen. Rollin liefert letztlich eine
Erklärung für die "Erkrankung", die vordergründig fast
ein wenig flach und einfallslos anmutet. Doch diese Erklärung passt
perfekt in die damalige Zeit, das momentan wieder sehr aktuelle
Thema, bewegte schon vor dreißig Jahren die Massen, führte zu
neuen politischen Strömungen. Ergo ist die offensichtliche Kritik
sogar aktueller denn jemals zuvor (Spoilergefahr zwingt mich zu
nebulösen Formulierungen). Man würde dem Film aber keinesfalls
gerecht, wenn man ihn auf eben diese offenkundige, vordergründige
"Message" reduzieren würde. "La nuit..." geht
viel tiefer, stellt elementare Fragen (sind es tatsächlich
Fragen?), überlässt die Antworten dem Zuschauer (gibt es
Antworten?). Die letzten Momente kann man als Erlösung auffassen,
doch von einem klassischen Happy End kann nicht die Rede sein, der
Gedanke daran kommt erst gar nicht auf. Ich kam mir vor, als wäre
ich in einen gewaltigen Strudel geraten. Wenn sich kurz ein
rettender Ast anzubieten schien, zerbrach dieser unter meinem
Zugriff, wahlweise zog mich der Strudel noch gnadenloser in sich
hinein. Man könnte vermutlich Bücher über diesen Film verfassen,
ihn auf unterschiedlichste Weise interpretieren. IMHO wird kaum ein
Betrachter "La nuit..." als Schilderung einiger
Einzelschicksale sehen, jede Auslegung ist möglich -vielleicht gar
angebracht- jeder Gedankengang wünschenswert. Es bleibt dem
Zuschauer überlassen, ob der das weiße Nachthemd der Lahaie als
Totenhemd für eine Person betrachtet... ...oder eben als
Leichentuch für die gesamte Gesellschaft, die in all ihrer Kälte
und Verdorbenheit, im Taumel des Vergessens, schon den
entscheidenden Schritt über den Rand des Abgrunds hinaus getan hat.
Unzählige Anspielungen, mehr oder weniger offenkundig, der
Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Handwerklich wirkt
nicht immer alles rund. Man kann durchaus hinterfragen, ob z.B. die
(wenigen) recht holprig wirkenden Schiesserein wirklich nötig
waren. Doch letztlich funktioniert der Film eben doch über die
gesamte Laufzeit, was in Anbetracht der eher bescheidenen
Produktionsumstände wie ein kleines Wunder anmutet. Ich möchte "La
nuit des traquées" jedem aufgeschlossenen Filmfreund mit allem
Nachdruck ans Herz legen! Ich verneige mich vor dieser Arbeit von
Jean Rollin, mit dessen Werken ich mich in Zukunft intensiver
beschäftigen werde. Lieber Jean, das ist ein Versprechen!
Das
niederländische Label Encore, hat ""La nuit des traquées"
in sehr ansprechender Form veröffentlicht. Der Film liegt ungekürzt
vor, die Qualität ist solide, obschon nicht von steriler
Hochglanzperfektion. Das schicke Digipak kommt in einem stabilen
Schuber ins Haus, eine interessante Bonus-DVD liegt bei. Die
Bonus-Scheibe bietet Audiokommentare, Interviews und ein paar
weitere Kleinigkeiten an, ferner ist ein informatives Booklet an
Bord. Die französische Originaltonspur lässt sich durch Untitel in
einigen Sprachen ergänzen, darunter finden sich auch UT in
deutscher Sprache. Für diese hochklassige Veröffentlichung werden
rund 25€ fällig, die in Anbetracht des Gebotenen als
Freundschaftspreis durchgehen. Wer weniger investieren möchte, kann
z.B. zur britischen Variante von Redemption greifen (The Night of
the Hunted).
Wie soll ich diesen Film in das übliche
Zahlenschema pressen? 8/10 (sehr gut) sind das absolute Minimum,
doch meiner Ansicht nach zu niedrig angesetzt. Zunächst möchte ich
es dennoch bei 8,5/10 (sehr gut bis überragend) belassen. Weitere
Sichtungen werden für mehr Klarheit sorgen, eine bessere
Einschätzung ermöglichen.
Lieblingszitat:
"So war es doch? So war es doch? Das weißt du doch noch?"
"So war es doch? So war es doch? Das weißt du doch noch?"
- Blap -
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