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NEUN GÄSTE FÜR DEN TOD

(„Nove ospiti per un delitto“, Italien 1977) R: Ferdinando Baldi

Der reiche Patriarch Ubaldo (Arthur Kennedy) fährt mit seinen drei Söhnen und dessen Ehefrauen auf eine einsame Mittelmeerinsel, um dort im trauten Familienkreis ein paar beschauliche Urlaubstage zu verbringen. Mit der Harmonie im Sippengefüge ist es jedoch nicht weit her: Die Brüder hassen sich untereinander und spannen sich mit Vorliebe gegenseitig die Gattinnen aus, die ihrerseits aus Säuferinnen, Huren und nervlichen Wracks bestehen. Das lustige Ehebrechen wird jedoch jäh unterbrochen, als der erste Tote auftaucht. Scheinbar treibt ein mysteriöser Mörder auf dem Eiland sein Unwesen. Als die Leichen sich häufen und die Nerven der Familienmitglieder zunehmend blankgelegt werden, kommen stückweise auch die grausamen und schmutzigen Geheimnisse aus der Vergangenheit ans Licht…
Neun Gäste für den Tod
Zunächst war die Überraschung groß, die spätere Freude umso größer: Bei dem in Deutschland nahezu unbekannten NOVE OSPITI PER UN DELITTO von Ferdinando Baldi (dessen Western BLINDMAN ich bislang für seinen besten Film hielt) handelt es sich um einen ganz ausgezeichneten Giallo. Ich hatte, ehrlich gesagt, nicht allzu viel von dem Film erwartet – allenfalls einen handfesten Sleaze-Giallo mit viel nackter Haut, der angenehm zu unterhalten weiß. All dies trifft auf NOVE OSPITI auch rundum zu, zumindest in den ersten 20 Minuten. Dann entwickelt sich die Story jedoch zu einem mörderisch spannenden und mitunter recht blutigen Thriller, der sämtliche Register zieht.
Bereits der Prolog hat es faustdick hinter den Ohren und ist meisterlich gemacht: In stark weichgezeichneten Bildern sieht man ein weißgekleidetes Liebespaar am romantischen Sandstrand, das von einer Handvoll Männern mit Schrotgewehren überrascht wird. Wir werden unfreiwillig Zeuge eines kaltblütigen Lynchmords: Der junge Liebhaber versucht zu fliehen, wird jedoch von mehreren Schüssen brutal niedergestreckt. Danach zerrt man ihn in ein flüchtig ausgehobenes Grab und verscharrt den Schwerverletzten bei lebendigem Leibe. Die gesamte Szene läuft in völliger Stille und ohne Musik ab – die einzigen Begleitgeräusche sind die Brandung, der Wind und die donnernden Schüsse…Puh, starker Tobak!
Im ersten Drittel des Films werden zunächst einmal die Charaktere eingeführt und ihre komplexen Beziehungen zueinander seziert – recht schnell merkt der Zuschauer, dass der Familiensegen Schieflage hat. Dem alternden Sippenoberhaupt Ubaldo entgleitet der Einfluss auf seine Söhne zusehends, zumal er kränkelt. Seine dreißig Jahre jüngere Gemahlin/Gespielin Giulia (Caroline Laurence) kümmert sich zwar – scheinbar! – rührend um ihn, wird jedoch von den anderen misstrauisch beäugt. Die junge Schlampe hat es doch nur auf das Vermögen des Alten abgesehen, so die familieninterne Meinung. Vor allem die drei Söhne befürchten, dass ihr Vater sie aufgrund ihres mannigfaltigen Versagens als Stammhalter enterbt haben könnte. Dies nicht ganz ohne Grund: Lorenzo (John Richardson) ist ein Schlappschwanz, der nicht raucht und trinkt und lieber angeln geht, als seine heißblütige Gattin Greta (Rita Silva) zu befriedigen, die keine Gelegenheit auslässt, ihn vor den Augen aller zu demütigen. Sie wälzt sich lieber mit ihrem Schwager Walter (Venantino Venantini) zwischen den Laken, oder besser gesagt, lässt es sich am hellichten Tag auf der Terrasse besorgen, während Lorenzo und Walters Frau Patrizia (Loretta Persichetti) zusehen müssen. Die anzufassen verspürt Walter keine Lust mehr, was man ihm nicht gänzlich verübeln kann – Patrizia ist nämlich etwas wunderlich. Sie behauptet, „Stimmen“ zu hören, die sie vor übersinnlichen Gefahren warnen und legt den ganzen Tag Tarotkarten, wenn sie nicht gerade literweise J&B-Whisky in sich hinein kippt. Saufen, Kette rauchen und mit Schrotflinten hantieren, das ist auch die Spezialität des zweitältesten der Brüder, Michele (Massimo Foschi), denn er ist ein ganzer Mann. Seine Ehefrau Carla lässt ihn zwar kalt, dafür geraten seine Säfte aber bei Giulia in Wallung – einen Umstand, den er selbst vor seinem Vater nur mühsam verbergen kann. Des Nachts ferkeln die beiden dann auch ausgiebig miteinander, und zwar mitten im ehelichen Schlafzimmer, wo Carla nebenan liegt und alles mit anhören muss. Sittenverfall und Unzucht feiern also fröhliche Urständ auf dem Inselparadies. Die Verkommenheit seiner Protagonisten dokumentiert Baldi, indem er dem Zuschauer sattsam nackte Haut präsentiert. Da wird gerödelt und geknattert, dass es nur so eine Art hat. Jeder mit jedem, übereinander, untereinander. Und wer zu kurz kommt, befriedigt sich selbst (angenehmerweise handelt es sich dabei um die attraktive Loretta Persichetti) mit Stöckelschuhen und im durchsichtigen Strandkleid unter der Dusche. Es wird also mit Lust auf die Sleazetube gedrückt, zur großen Wonne des Betrachters – denn die Damen sind allesamt ansehnlich. Alle, bis auf vielleicht Tante Elisabetta (Dana Ghia), Ubaldos Schwester, eine alternde Jungfer, die bereits ein paar Schrauben locker hat. Ständig faselt sie von einem Fluch, von bösen Träumen und von einem gewissen „Charlie“, der wiederkommen werde um grausame Rache zu nehmen…
Auf einer tieferen Ebene greift der Film hier natürlich ein beliebtes und weit verbreitetes Motiv des Giallo auf: Die schonungslose Bloßstellung der reichen, dekadenten Oberschicht als moralisch verkommene Subjekte, die ihr gesamtes Handeln lediglich der egoistischen Befriedigung der eigenen Triebe und Gelüste unterordnen und dabei bereit sind, über Leichen zu gehen. Unter der idyllischen Fassade der heiligen Institution „Familie“ (besonders im erzkatholischen Italien!) gärt die Fäulnis, und die Geldgier der Aasgeier wird nur noch von ihrer Geilheit überboten.
Hier ist wirklich jeder des anderen Wolf, man belauert und misstraut sich gegenseitig, erniedrigt sich, wo es nur geht und denkt nur an den eigenen Vorteil. Freilich gibt dies Anlass für reichlich Zündstoff, als sich die ersten Morde ereignen und das Ferienparadies zum Haifischbecken wird.
Die Morde, die in ihrem Einfallsreichtum und der praktizierten Brutalität mitunter schon in Slasher-Gefilde eintauchen, werden stilgerecht mit schwarzen Handschuhen und unter Einsatz der subjektiven Kamera durchgeführt – hierbei erweist Baldi sich als Traditionalist. Sehr reizvoll, weil außergewöhnlich, ist das Setting: die idyllische Mittelmeerinsel mit ihren weißen Postkartenstränden, dem tiefblauen Meer und den pittoresken Sandsteinfelsen steht im krassen Kontrast zur inneren Verderbtheit ihrer Besucher und den finsteren Geheimnissen, die im Verlauf des Films ans Licht gefördert werden. Paradise lost: Aus der Urlaubstraum!
Eine solche Geschichte funktioniert natürlich nur mit einem erstklassigen Ensemble, und hierin liegt die wahre Stärke von NOVE OSPITI. Besonders die Besetzung der männlichen Rollen kann man als Glücksgriff bezeichnen, denn hier geben sich einige gestandene Charakterdarsteller ein Stelldichein. Hollywood-Veteran Arthur Kennedy verdingte sich in zahllosen amerikanischen Filmproduktionen, bevor er sein markantes Konterfei in etlichen italienischen Genrebeiträgen verewigte – am bekanntesten dürften seine Auftritte als Priester in Alberto de Martinos SCHWARZE MESSE DER DÄMONEN und sein unsterblicher Kommentar als grantiger Inspektor in DAS LEICHENHAUS DER LEBENDEN TOTEN sein. („Ihr seid alle gleich, ihr ungewaschenen, verkommenen Langhaarigen, angezogen wie Schwule, Drogen, Sex – fähig zu jeder Schweinerei!“)
Großartig ist auch Massimo Foschi als Michele, dem seine überschäumende Männlichkeit zum Verhängnis wird. Man kennt ihn vor allem aus Umberto Lenzis MONDO CANNIBALE 2. Über Valentino Valentini muss man in Gegenwart von Italo-Filmfreunden eigentlich kein Wort mehr verlieren: Der markante Darsteller hat in unzähligen Produktionen der 70er und 80er Jahre mitgewirkt, wovon die Fulci-Kracher SYNDIKAT DES GRAUENS und EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL die bekanntesten sein dürften. Auch bei Baldis nachfolgender Sleaze-Granate HORROR-SEX IM NACHTEXPRESS war er wieder mit an Bord. Den Höhepunkt des männlichen Casts stellt jedoch John Richardson dar, dessen Charakter Lorenzo sich vom bebrillten Weichei zum fast schon psychopathischen Egoisten mit fein gezeichneten Nuancen entwickelt. Richardson ist ebenfalls ein Stamm-Mime im Italokino, der sich seine Meriten bereits bei Mario Bavas DIE STUNDE WENN DRACULA KOMMT verdiente. Später sah man ihn u.a. in DJANGO – DIE BIBEL IST KEIN KARTENSPIEL, FRANKENSTEIN `80 oder LABYRINTH DES SCHRECKENS. Zum Giallo kehrte er 1981 mit Riccardo Fredas Spätwerk MURDER OBSESSION zurück.
Aber auch die weibliche Besetzungsliste weiß zu gefallen, nicht nur aufgrund ihrer körperlichen Vorzüge. Die aparte Sofia Dionisio (die hier als Flavia Fabiani agiert) sammelte bereits Giallo-Erfahrungen mit Tonino Valeriis MIO CARO ASSASSINO und fuhr bei Deodatos EISKALTE TYPEN AUF HEISSEN ÖFEN mit. Bei ASSASSINO spielte auch Dana Ghia, die außerdem bei BLUTSPUR IM PARK mitwirkte und die Mutter von Nicoletta Elmi in IL MEDAGLIONE INSANGUINATO gab. Sie legt in NOVE OSPITI eine besonders beeindruckende Performance hin, die ihren langsamen Abstieg in den Wahnsinn mit manischem Glucksen und Kichern illustriert. Die hübsche blonde Französin Caroline Laurence absolviert ihren erst zweiten Filmauftritt, weiß als eiskaltes Luder Giulia aber durchweg zu überzeugen. Später war sie bei einigen EMANELLE-Vehikeln mit an Bord, an der Seite von Sylvia Kristel. Abgerundet wird der sündige Schlampenstadl von Loretta Persichetti, die bereits bei Tinto Brass‘ SALON KITTY Erfahrungen mit sich-nackig-machen sammelte und in NOVE OSPITI als esoterisch verwirrte Alkoholikerin Patrizia brilliert.
Aber erfreulicherweise kann der Film auch auf formaler und technischer Ebene punkten. Hervorragend ist vor allem die Bildgestaltung von Sergio Rubini, der ein sicheres Händchen für die Stilmittel des Giallo beweist, sowohl Kamera als auch Ausleuchtung betreffend. Im Laufe der Handlung beginnt die Bildführung, die anfänglich noch von visueller Harmonie und Blick für’s Weite geprägt ist, zunehmend klaustrophobischer und beengender zu werden.
Eine erwähnenswerte Leistung ist auch das enorm dicht gestrickte und handwerklich solide Script von Fabio Pittorru, der neben etlichen anderen Genreproduktionen auch für die tollen Emilio Miraglia-Gialli LA DAMA ROSSA UCCIDE SETTE VOLTE und LA NOTTE CHE EVELYN USCI DALLA TOMBA verantwortlich zeichnet. Zwar bedient er sich für die „Zehn kleine Negerlein“-Story recht freimütig bei Agatha Christies Geschichte AND THEN THERE WERE NONE und dem Mario Bava-Vorbild 5 BAMBOLE PER UNA LUNA D’AGOSTO, aber das gilt für zahllose Gialli bzw. Slasher und stört keinen großen Geist. Für die feingeschliffene Zeichnung von Charakteren hat er jedenfalls ein sauberes Auge und legt seinen Figuren einige hübsch bösartige Dialoge in den Mund.
Der minimalistische Ohrwurm-Score von Carlo Savina (der vor allem im Western tätig war und die Musik zu FÜNF BLUTIGE STRICKE und SATAN DER RACHE komponierte) glänzt über weite Strecken mit Abwesenheit und räumt der Meeresbrandung und dem entnervenden Windgeheul viel Platz ein, wenn er aber mal einsetzt, ist es stets sehr effektiv.
Woher der Film seinen deutschen Titel NEUN GÄSTE FÜR DEN TOD bezieht, ist nicht ersichtlich (zumal es korrekterweise „Neun Gäste für ein Verbrechen“ heißen müsste), da er in Deutschland weder als Kino- noch als VHS-Auswertung vorliegt. Der Filmfan ist gezwungen, auf die italienische DVD von Surf Video/Cecchi Gori zurückzugreifen, die lediglich O-Ton ohne Untertitel aufweist, dafür aber mit guter Bildqualität glänzt. Obschon Baldis Kleinod nicht an die Giganten des Genres heranreicht – zu den Argentos und Martinos fehlt ein kleines Stück – darf man NOVE OSPITI dennoch getrost zur Speerspitze italienischer Thriller-Unterhaltung zählen. Hier liegt endlich mal ein – sträflich vernachlässigter! – Film vor, für den es sich lohnen würde, eine deutsche Synchronisation herzustellen und zu veröffentlichen.
Eine flehentliche Bitte sei hiermit an die betreffenden Labels ausgesprochen!
Um endlich zum Fazit zu kommen: NOVE OSPITI PER UN DELETTO ist ein zum Teil herrlich sleaziger, zum Teil enorm zynischer und blutrünstiger Schuld-und-Sühne-Giallo der Sonderklasse, den kein Genrefreund sich entgehen lassen sollte.
In Zahlen: 8 von 10.
- Pelle -





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