Filmclub Bali
   
 

MR 73

(Frankreich, 2008) R: Olivier Marchal

Well I stepped into an avalanche,
It covered up my soul;
When I am not this hunchback that you see,
I sleep beneath the golden hill.
You who wish to conquer pain,
You must learn, learn to serve me well.


Leonard Cohen
Kommissar Schneider (Dasniel Auteuil) ist eine zerbrochene Existenz. Seit einem tragischen Verkehrsunfall ist seine kleine Tochter tot und seine Frau ein körperlich und geistig schwerstbehinderter Pflegefall. Schneider exorziert seine Dämonen mit dem exzessiven Konsum von Alkohol, was ihn immer wieder in selbstzerstörende Situationen führt. Aufgrund wiederholtem schwerwiegenden Fehlverhaltens wird er von seinem Fall, der Suche nach einem Serienmörder und -vergewaltiger suspendiert und strafversetzt. Aber Schneider gibt nicht auf, und bald wird die Jagd nach dem Täter zu seiner persönlichen Höllenfahrt...
Mr 73
Zu Beginn des Films sitzt Schneider – zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, daß er ein Bulle ist – sturzbesoffen in einem Bus. Als er feststellt, daß er in die falsche Richtung fährt, torkelt nach vorn zum Fahrer und zwingt diesen mit vorgehaltener Waffe, ihn "nach Hause" zu fahren. Kurz darauf stürmt ein schwer bewaffnetes Einsatzkommando das Fahrzeug und verhaftet Schneider. Am nächsten Morgen, beim bösen Erwachen in der Ausnüchterungszelle, weiß er von nichts mehr. "Ich hab mich vollgepisst", sagt er mit trübem Blick zu seinem Kollegen. Die Innere Sicherheit vertuscht den Fall, degradiert Schneider aber zur Schreibtischarbeit auf Nachtschicht.
Der Titelsong von Leonard Cohen, "Avalanche", bereitet uns angemessen auf die Dinge vor, die da kommen werden – denn dieser Film ist eine Lawine, die uns mit sich reißen wird. Was so beginnt, das kann nicht gut enden.
Vordergründig erzählt MR 73 von der Suche nach einem Serienvergewaltiger und -mörder, dessen Modus Operandi dem eines bereits inhaftierten Mörders ähnelt (der wiederum gespielt wird von Philippe Nahon, dem Pferdemetzger aus Gaspar Noés MENSCHENFEIND und IRREVERSIBLE). Auf den ersten Blick handelt es sich um einen typischen knüppelharten Cop-Thriller, wie man ihn schon häufig sah. Marchal bricht jedoch respektlos mit dem Regelwerk des Genres. Einer konventionellen Spannungsdramaturgie verweigert sich seine Regie nämlich völlig; nicht einmal einen eindeutigen roten Faden spannt er, der die Handlungsfäden und Protagonisten miteinander verknüpfen würde.
Marchals exquisiter visueller Stil ist an den großen Stilisten des Kinos geschult, an Jean-Pierre Melville, Michael Mann und den Filmen der Schwarzen Serie. Seine Kameraaufnahmen treiben jedoch die Kälte, Einsamkeit und Düsternis in ungeahnte Abgründe. Die Wände der Locations sehen aus, als schwitzten sie Pisse und Scheiße, die Menschen wirken allesamt, als hätten sie seit 4 Wochen nicht geduscht, selbst die Natur scheint von Schimmel befallen zu sein. Düstere, kalte, fast monochrome Bilder; tief verletzte, stoische Blicke; Gesichter, zerfurcht wie alte Ackerschollen. Marchal malt die Welt in finsteren Pinselstrichen, eine nihilistische Welt, die vor schmerzhafter Authentizität nahezu stinkt. Die Dialoge sind karg, aber messerscharf auf den Punkt gebracht. Ein Gespräch zwischen Schneider und einem Kollegen: "Deine Frau ist potthässlich, deine Kinder verachten dich, dein Haus ist eine Müllhalde und du hasst dein Leben!" – "So ein Leben führen die meisten Menschen..."
Ebenso karg und sparsam ist die Konstruktion des meisterlichen Drehbuchs. Erklärungen werden so wenige wie nur möglich geliefert, der Status Quo wird in minimalistischer aber umso effektiver Weise etabliert und nicht weiter kommentiert. Der Unfall und Tod seiner Tochter, der Schneiders Leben aus der Bahn warf, wird in stummen S/W-Rückblenden nachgeliefert; ein Besuch am Krankenbett seiner Frau verläuft ohne ein gesprochenes Wort – die erschütternden Bilder sprechen für sich.
Es ist eine Hundewelt, die dort gezeichnet wird; der Mensch ist sich selbst sein ärgster Feind. Die Polizisten sind dabei die allergrößte Schweine, nur knapp hinter den Mördern und Vergewaltigern, die sie jagen – jeder ist bis ins Mark korrupt, verkommen, amoralisch.
"Das erinnert ein wenig an Melvilles LE CERCLE ROUGE (‚Vier im roten Kreis', 1970), an den Vorgesetzten, der dort erklärt, es gäbe keine Unschuldigen: Alle sind schuldig, ausnahmslos." – (Harald Steinwender in SPLATTING IMAGE)
Ausgerechnet der völlig heruntergekommene Schneider ist der letzte, der sich einen Schimmer Menschlichkeit bewahrt hat und dieses zarte Pflänzchen mit brutaler Konsequenz verteidigt. Dabei taumelt er durch sein lichtloses Dasein, auf der verzweifelten Suche nach Erlösung. Eine ähnliche Radikalität legte allenfalls Abel Ferraras BAD LIEUTENANT an den Tag.
Marchal war, bevor er ins Regiefach wechselte, selber Polizist. Das erklärt womöglich vieles.
Am Ende triumphiert die allgegenwärtige Korruption:

Achtung Spoiler

Der Täter ist der Sohn des Chefs der Geheimpolizei, der Fall wird unter den Tisch gekehrt, Beweise verschwinden.

Spoiler Ende

"Sie sind in die Scheiße gesprungen und haben dabei alles vollgespritzt", sagt sein Vorgesetzter zu Schneider. "Das Resultat ist gleich Null."
Und das ist der Moment, an dem Schneider endgültig den Kontakt zur Realität verliert und die Sache in die eigene Hand nimmt. Wie gesagt: Ein gutes Ende kann das nicht nehmen.
Die Schauspieler, allen voran Zugpferd Daniel Auteuil, legen Höchstleistungen der obersten Güteklasse vor. Selten hat man eine eindringlichere und authentischere Darstellung einer gescheiterten Existenz erlebt, als bei Auteuils Kommissar Schneider. Hervorragend ist auch Olivia Bonamy (mit blondiertem Stachelhaar und schwarzen Augen, die direkt in den Abgrund zu starren scheinen), die in einem parallelen Erzählstrang die schwangere Justine spielt, deren Eltern damals von Nahon angeschlachtet wurden.
Mehr als einmal stand mir während des Abstiegs in die Tiefen dieses Films der Titel einer von mir sehr geschätzten Platte von Nine Inch Nails vor Augen: "The Downward Spiral". Schneiders Weg führt konsequent nach unten, zum Nullpunkt – und wir begleiten ihn, bleiben immer dicht an ihm dran, ob wir wollen oder nicht. Olivier Marchals dritte Regiearbeit (nach seinem glatteren Debüt GANGSTERS und dem hervorragenden 36) schickt den Zuschauer in den neunten Höllenkreis und lässt ihn dort einsam zurück. Weniger gefestigte Menschen laufen Gefahr, sich nach Sichtung den Strick zu nehmen – auch wenn am Ende ein kleines Fünkchen neue Hoffnung glimmt.
Eschreckend ist auch (einmal mehr) die Tatsache, welche Sorte verstörender und dadurch umso wertvollere Filmkunstwerke unsere unmittelbaren Nachbarn aus Frankreich heutzutage produzieren, während hierzulande alles in Nichtigkeit und Schwachsinn ersäuft. Ich denke hierbei nicht nur an MR 75, sondern auch an die Filme von Bruno Dumont oder die Meisterwerke von Gaspar Noé.
Einer der eindringlichsten und niederschmetterndsten, dadurch aber auch besten und wichtigsten Filme der jüngsten Zeit.
Erstklassiges Kino. Bitte mehr davon – auch wenn es wehtut.
[Die MR 73 im Titel ist übrigens ein Revolver, eine Manurhin-Spezialanfertigung. Sie wird erst spät im Film eingeführt und funktioniert vor allem als Referenz an frühere Films policier wie Alain Corneaus POLICE PYTHON 357 (1976). (Quelle: Harald Steinwender)
Sie symbolisiert den Akt der Katharsis, der den Plot des Films endgültig kippen lässt.]
Zitat:
"Wir sind alle Zeitbomben."
Und noch eins:
"Gott? Gott ist ein Drecksack. Irgendwann bringe ich ihn um."
- Pelle -





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