Filmclub Bali
   
 

LEMORA – A CHILD´S TALE OF THE SUPERNATURAL

(USA 1973) R: Richard Blackburn

In den 30er Jahren, irgendwo im tiefsten Süden der USA: Die 13jährige Lila Lee (Cheryl Smith) ist ein braves, züchtiges Mädel, das im Kirchenchor singt und allen ein rechter Augenstern ist: persilweiß strahlt das Kleidchen, die Zöpfe werden von blauen Schleifen gehalten – ein Abbild von Unschuld und Reinheit. Ihr Vater dagegen ist ein Gangster und Bankräuber, der Lilas Mutter und deren Liebhaber mit der Schrotflinte erschossen hat und nun auf der Flucht vor der Staatsgewalt ist. Als Lila einen Brief ihres Vaters erhält, in dem er ihr schreibt, er liege im Sterben und bäte um ihre Vergebung, macht sie sich auf die Suche nach ihm. Die gefahrvolle Reise führt sie in das verrufene Sumpfgebiet Asteroth, in dem sie auf verwilderte Tiermenschen, Hexen und Vampire trifft. Unterschlupf findet sie im Anwesen der mysteriösen Lemora (Leslie Gilb), die sie in ihre „Familie” aufnehmen will – eine ganze Schar bleicher und sonderbarer Kinder lebt bereits im Haus der rätselhaften Dame. Auch ihr Vater scheint sich auf dem Grundstück aufzuhalten, allerdings hat er sich auf dramatische Weise verändert. Was will die gespenstische Lemora wirklich von Lila? Und was hat es mit den seltsamen Kreaturen auf sich, die das Haus belauern?
Lemora
LEMORA, gedreht im Jahr 1973, ist der erste und einzige Film von Richard Blackburn, dem hier eine stimmungsvolle Melange aus Schauerromantik, Southern-Gothic-Drama und düster-poetischem Erwachsenen-Märchen geglückt ist. Der Film thematisiert Kernfragen wie den Verlust der Unschuld, den Schmerz des Erwachsenwerdens und die Rolle von Moral, Ethik und Religion, effektvoll verpackt im Gewand einer Gruselgeschichte, die Anleihen an Meisterwerke wie Charles Laughtons DIE NACHT DES JÄGERS (1955) oder die Romane von J. Sheridan LeFanu nicht verhehlen kann. Wie auch in Laughtons Film, geht es bei LEMORA um eine Reise und Suche, während deren Verlauf die kindliche Unschuld verschiedener sexualisierter Bedrohungen ausgesetzt wird – jeder (Mann), dem Lila Lee begegnet, entpuppt sich als Lüstling, Perverser oder potentieller Schänder. Selbst der brave Herr Pastor kann sich kaum beherrschen, wenn er den blonden und blauäugigen Rauscheengel mit gierigen Blicken verzehrt.
Dem Film wurde daher von einigen Kritikern pädophile Tendenzen vorgeworfen, aber damit befindet man sich auf dem Holzweg – das wäre so, als unterstelle man Dario Argento die Glorifizierung von Lustmord. Vielmehr wird die reaktionäre, fanatisch religiöse und patriarchale Struktur der Südstaaten an den Pranger gestellt, unter deren vermeintlich sauberer Oberfläche eine tiefe, sexuell repressive Verkommenheit lauert. Man muss Blackburn auch zugute halten, dass er die angeblich skandalösen Elemente des Films sehr behutsam inszeniert und auf exploitative Exzesse vollkommen verzichtet hat. Trotz einiger provokativer (aber relativ harmloser) Andeutungen lässt Blackburn seine Kernstory nicht aus dem Blick: die Odyssee und die erfolgende Transformation, die Begegnung mit der eigenen dunklen Natur, das Symbol des Coming of Age als Befreiung von den Fesseln gesellschaftlicher Unterdrückung. Und trotz allem funktioniert LEMORA auch als waschechte Gruselmähr.
Bezeichnend ist wohl der Umstand, dass die Kirche jahrelang versuchte, den Film zu verbieten. In Lousiana und Texas wurde er auf den Index gesetzt.
Trotz seines geringen Budgets ist der Film ganz vorzüglich gemacht. Blackburn gelingt es, mit den Mitteln einer kunstvollen Ausleuchtung und äußerst stimmigen Sets, eine sowohl bedrohliche als auch märchenhafte Atmosphäre zu erschaffen. Die Verquickung von Motiven des Vampirfilms mit Südstaaten-Schauerromantik gelang erst kürzlich in Alan Balls (SIX FEET UNDER) formidabler TV-Serie TRUE BLOOD sehr überzeugend, aber auch schon bei LEMORA funktioniert diese Mischung prächtig. Es wird zudem eine Prise E.A. Poe und vor allem H.P. Lovecraft hinzugestreut und eine ordentliche Kelle Jungscher und Freudscher Symbolik aufgeschüttet, gewürzt mit Religions- und Gesellschaftskritik. Herausgekommen ist ein Resultat, das in seiner künstlerischen Gesamtheit sehr europäisch wirkt und häufig wie eine Kooperation von Jean Rollin und Paul Naschy daherkommt.
Sehr effektvoll ist auch der Einsatz der Musik und des Sounds – auf der Tonspur heult und jault und knurrt es derart beklemmend, als bräche in Asteroth jeden Moment der jüngste Tag an.
Cheryl Smith, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 16 Jahre alt war und bereits 2002 verstarb, spielt die desorientiert und verstört durch die Geschichte wandelnde Lila Lee rundum überzeugend. Sie war in den 70er und frühen 80er Jahren noch in etlichen B-Filmen zu sehen, etwa in ZUCHTHAUS DER VERLORENEN MÄDCHEN, MASSAKER IN KLASSE 13 oder LASERKILL – TODESSTRAHLEN AUS DEM ALL. Noch gelungener ist freilich die Rolle der morbid-schönen und außerweltlich wirkenden Leslie Gilb als Lemora, die danach leider nicht mehr auf der Leinwand zu sehen war. Richard Blackburn führte nicht nur Regie, er spielt auch den Baptisten-Reverend, der Lila Lee unter seine Fittiche genommen hat und sich schließlich auf die verzweifelte Suche nach seinem entflohenen Engel macht.
Kurzum: Ein handwerklich einwandfreies und wunderschön inszeniertes Low Budget-Gothic-Grusel-Märchen mit provokanten Untertönen und herrlich europäischem Flair. Leider ein unterschlagenes und vergessenes Kleinod des phantastischen Kinos. Für Freunde des etwas anderen Vampirfilms eine klare Empfehlung!
***
Das löbliche Label Synapse, Heimat zahlreicher seltener japanischer Genrefilme, hat den gesuchten Film in einer rundum restaurierten und qualitativ brillanten Fassung auf DVD veröffentlicht – die Scheibe gibt es preiswert bei den einschlägigen US-Anbietern.
- Pelle -





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