L’IMMORALITÀ
(Italien, 1978) R: Massimo Pirri
Es gibt Filme, die lassen den
Betrachter vollkommen sprach- und ratlos zurück. Man weiß nicht:
Soll man eine desinfizierende Dusche nehmen und sich die Augen
auswaschen oder soll man dem Werk einen geheimen Altar errichten und
ihm im Mondschein huldigen?
Es gibt Filme, die konnten in dieser Form einfach nur in Italien in den 70er Jahren entstehen. Zu jeder anderen Zeit, an jedem anderen Ort, wären sie auf Marktplätzen öffentlich verbrannt worden. Und mit ihnen wahrscheinlich ihre Macher.
Es gibt Filme, die lassen einen einfach nicht mehr los. Die in ihrer Konsequenz für Spaltung und Aufruhr sorgen, die man entweder liebt oder hasst aber niemals gleichgültig lassen. DIE 120 TAGE VON SODOM ist so ein Film, MARTYRS ist so ein Film, IRREVERSIBLE ist so ein Film. So ein Film ist auch L’IMMORALITÀ, nur, dass er weit weniger bekannt sein dürfte als die Genannten.
Es gibt Filme, die konnten in dieser Form einfach nur in Italien in den 70er Jahren entstehen. Zu jeder anderen Zeit, an jedem anderen Ort, wären sie auf Marktplätzen öffentlich verbrannt worden. Und mit ihnen wahrscheinlich ihre Macher.
Es gibt Filme, die lassen einen einfach nicht mehr los. Die in ihrer Konsequenz für Spaltung und Aufruhr sorgen, die man entweder liebt oder hasst aber niemals gleichgültig lassen. DIE 120 TAGE VON SODOM ist so ein Film, MARTYRS ist so ein Film, IRREVERSIBLE ist so ein Film. So ein Film ist auch L’IMMORALITÀ, nur, dass er weit weniger bekannt sein dürfte als die Genannten.
Wenn in der Anfangsszene Howard Ross
(der Ober-Schmierlapp aus Fulcis NEW YORK RIPPER) die Leiche eines
kleinen Mädchens im Sommerkleidchen in seinen Armen trägt und sie
in einem hastig geschaufelten Grab verscharrt, ahnt man, dass dieser
Film keine leichte Unterhaltungskost verspricht. Auf der
anschließenden Flucht wird der Kindermörder und Vergewaltiger
Federico (Ross) von der Polizei angeschossen und flüchtet auf das
weitläufige Anwesen eines schwerreichen, aber an den Rollstuhl
gefesselten Zynikers (brillant gespielt von dem im Verlauf namenlos
agierenden Mel Ferrer), wo er sich in einer Gartenlaube versteckt.
Die 11jährige Tochter des Hauses, Simona (schockierend gut: Karin
Trentephol), findet ihn dort, versorgt seine Wunden und beginnt sich
mit der Zeit in den Unhold zu verlieben (!). Die selbstzerstörerische
Beziehung findet ein jähes Ende, als Simonas alkoholabhängige und
promiskuitive Mutter Vera (kernschlampig: Lisa Gastoni) Wind von dem
Verhältnis bekommt und die Anwesenheit des Täters für ihre eigenen
Zwecke zu missbrauchen beginnt.
Abgesehen von der Grundstory und der
Handlung des Films, die bereits Abgründe aufklaffen lässt, ist es
vor allem das hoffnungslose Menschenbild, welches Autor und Regisseur
Massimo Pirri hier zeichnet, was so maßlos verstört und
erschüttert. Ausnahmslos jeder Protagonist der Geschichte ist
lediglich von seinem eigenen Egoismus und niedersten Begierden
getrieben. Der Vater lebt in einer isolierten Kunstwelt, in der er
sich in seinen Uhrwerke und Jagdflinten versenkt und wenig Sinn für
die Nöte und Bedürfnisse seiner Tochter hat. Er benutzt sie
lediglich als Publikum, um ihr verschwurbelte philosophische Vorträge
zu halten, die sie über sich ergehen lässt, um wenigstens in seiner
Nähe zu sein. Die Mutter ist ihr eine Fremde, die weder Liebe für
ihre Tochter, noch für sich selbst empfindet.
„I
have always been honest to you. I never pretended to be your mother“,
sagt sie in einer Szene zu Simona. Für ihren Mann, an den sie
ein bizarrer Ehevertrag bindet, empfindet sie nichts als Spott und
blanken Hass. Das Auftauchen des Kinderschänders Federico – den
sie in einer besonders ekelhaften Szene „verführt“ um ihn sich
hörig zu machen – kommt ihr zupass, da sie in ihm das langersehnte
Werkzeug erhofft, um ihren Mann umzubringen und das Erbe einzusacken.
Simona sehnt sich in diesem giftigen Umfeld nur nach Liebe und
Verständnis – und ist bereit, diese sogar von einem Kindermörder
entgegen zu nehmen, dessen wahre Natur sich bereits nach kurzer Zeit
offenbart, jedoch akzeptiert wird.
Aber auch die „Gegenseite“ wird
rundum negativ dargestellt: Federicos Häscher bestehen aus
aufgebrachten „rechtschaffenen Bürgern“, die sich zu einem
blutgierigen Lynchmob zusammenrotten und in ihrer Gier nach
Selbstjustiz nicht einmal davor zurückschrecken, Simona
einzuschüchtern und zu quälen:
„I don’t give a shit about that
stupid girl“, sagt der Rädelsführer.
„I just want that bastard
dead!“ Der ermittelnde Kommissar bricht schließlich selber das
Gesetz und setzt sich über jede, vormals von ihm verteidigte, Moral
hinweg. Ihm geht es letztlich nur darum, die von ihm begehrte Vera um
jeden Preis ins Bett zu kriegen. Doch die suhlt sich lieber in ihrem
eigenen Selbstekel mit Federico zwischen den Laken:
„I liked it.
Because you did it with hate.“ Das Ungeheuerlichste dabei ist
vielleicht, dass der Kindermörder letzten Endes selber nur ein Opfer
der Machenschaften dieses pervertierten Bürgertums wird.
Die Grenze zum Sleaze überschreitet
die behutsame Inszenierung und das geschickt konstruierte Drehbuch
zum Glück nur selten, lediglich in manchen Szenen wird der Bogen
magenverstimmend überspannt. Die Beziehung zwischen Federico und
Simona erschöpft sich keineswegs auf platonischer Ebene. Der Film
belässt es hierbei nicht bei Andeutungen, sondern geht bis zum
Äußersten. Angesichts der Badezimmer-Szene zwischen Simona und
Federico dürften wohl selbst aufgeschlossene Filmfreunde an die
Grenzen ihrer Toleranz und Belastbarkeit geführt werden. Verstörend
ist vor allem nicht nur was gezeigt wird, sondern
wie
es gezeigt wird: Die unerhörte Selbstverständlichkeit, mit der die
Ereignisse auf die unausweichliche Katastrophe zusteuern, ist
zutiefst erschütternd.
Es ist vor allem dem herausragenden
Spiel der jungen Karin Trentephol (die danach – wen wundert’s? –
in keinem weiteren Film mehr zu sehen war) zu verdanken, dass
L’IMMORALITÀ nicht zu einem Schmierenstück verkommt. Die
Vielschichtigkeit und Reife, die sie ihrer schwierigen Rolle
verleiht, ist beeindruckend. Ebensolches kann über Ferrer, Gastoni
und den fast bemitleidenswert zerrissen agierenden Ross gesagt
werden.
Exzellent ist auch die Cinematografie
von Kamera-Routinier Riccardo Pallottini, der sich bereits bei den
Gothic-Gruslern von Antonio Margheriti seine Meriten einheimste (u.a.
DANZA MACABRA und LA VERGINE DI NORIMBERGA) und bei L’IMMORALITÀ
eine anfangs klaustrophobe Bildgestaltung in der Endsequenz in Licht
und Weite auflöst.
Von Regisseur Pirri war mir bislang nur
der unkonventionelle Poliziottescho TERROR STREETS und der
Drogenthriller HÖLLENTRIP INS JENSEITS (mit Helmut Berger!) bekannt
1983 drehte er noch den Abenteuer-Schmonzes DAS GEHEIMNIS DES
VERSCHOLLENEN GRABMALS, danach wurde es still um ihn. L’IMMORALITÀ
stellt in seiner überschaubaren Filmografie eine Ausnahmeerscheinung
dar, mit der man nicht rechnen würde. Mit Abstand ist es seine beste
Arbeit.
Ennio Morricone
hat dazu einen ungewöhnlichen, aber virtuosen Score komponiert, der
lediglich aus filigran-morbiden Piano-Sequenzen und bedrohlichen
E-Bass-Einsprengseln besteht.
Man fragt sich, wie dieser Film
überhaupt entstehen konnte und wie er wohl vom Publikum aufgenommen
wurde. Je nach eigener Moralität und Ethik mag es als Segen oder
Fluch zu empfinden sein, dass diese Obskurität bei Raro Video als
DVD erschienen ist (italienischer Ton mit engl. UT).
L’IMMORALITÀ ist kein schöner, kein
leichter, aber ein wichtiger und schmerzhaft guter Film.
Ohne Wertung.
- Pelle -
Die auf dieser Netzpräsenz veröffentlichten Filmbesprechungen haben rein
filmjournalistische Bedeutung. Das verwendete Bildmaterial dient nicht zu Werbezwecken,
sondern ausschließlich zur filmhistorischen Dokumentation.