HIGH TENSION
("Haute Tension", Frankreich 2003) R: Alexandre Aja
Die Studentinnen Alex und Marnie fahren zum Haus von Alex' Eltern in
der französischen Provinz, um für bevorstehende Prüfungen
zu büffeln. Doch bereits in der ersten Nacht dringt ein
mysteriöser Fremder in die Behausung ein, tötet die gesamte
Familie und nimmt Alex in seinem alten Lieferwagen gefangen. Marnie
heftet sich an die Fersen des Fieslings, um ihre Freundin zu retten...
An dieser
Stelle sollte eigentlich mit der Besprechung Feierabend sein, wenn
man nicht zuviel verraten möchte. Was man noch erwähnen
darf, ohne zu spoilern:
HAUTE TENSION ist ein nervenzerfetzend spannender, an die Substanz
greifender, unerträglich intensiver, konsequent inszenierter,
extrem fieser und blutrünstiger, klasse gespielter, hervorragend
gefilmter und geschickt montierter Slasherfilm mit aufwühlendem
Elektro-Score – und einem, nun ja... überraschenden Ende.
Da es im
Folgenden um eben jenes Ende bzw. die Auflösung des Films gehen
wird, werde ich aus Rücksicht auf alle, die den Film noch nicht
gesehen haben, das fahle Tarnkleid des Spoilerschutzes darüber
ausbreiten. ;-)
ACHTUNG SPOILER!
Alle, die
den Film kennen, wissen: Am Ende stellt sich heraus, daß Marnie
die Taten selber begangen hat und offenbar an so etwas wie
"Persönlichkeitsspaltung" leidet. Bei der ersten Sichtung
hat dieser Plottwist mich zunächst überrascht, danach zum
lachen gebracht und schließlich maßlos verärgert –
fand ich ihn doch arg bemüht und an den Haaren herbeigezogen.
Fachleute (sprich: Slasher-Experten) rieten mir, dem Film eine zweite
Chance zu geben, dann werde sich Ajas Geschick offenbaren und die
scheinbaren Löcher im Skript sich mit staunendem Wohlgefallen
schließen. Gesagt, getan. Das Problem ist: Nach der zweiten
Sichtung klafften die Löcher noch viel größer.
Doch zunächst zu den Situationen, wo das Drehbuch (immer in Hinblick
auf das Ende) funktioniert: Bereits in der Expositionsszene sehen wir
Marnie, wie sie verletzt durch den Wald rennt und von jemand/etwas
Unsichtbarem verfolgt wird. Sie erwacht im Auto auf der Rückbank,
während Alex am Steuer sitzt – alles nur ein Traum. "Wer hat
dich den verfolgt?", will ihre Freundin wissen. "Niemand",
erwidert Marnie. "Ich habe mich selbst verfolgt."
Im Verlauf
häufen sich solche, mehr oder weniger subtile, Andeutungen. Man
versteht nun, warum Marnie mit solch seltsamen, raubtierhaften
Blicken das Interieur des Hauses von Alex' Familie taxiert. Man
begreift plötzlich, warum die hingeschlachtete Mutter im Sterben
sie fragt: "Warum?" Man kann das Entsetzen nachvollziehen, daß
die gefesselte und geknebelte Alex empfindet, als Marnie sie aus dem
Lastwagen befreien will. Das sind die Momente, die Aja wirklich
rundum gelungen sind. Sehr schön finde ich auch die
psychosexuelle Komponente, daß Marnie lesbisch ist und der
bullige, stinkende, schwitzende Killer ein Symbol ihrer verdrängten
Schuldkomplexe und ihres offensichtlichen Männehasses ist.
Aber nach wie vor hat Aja zwei eklatante Fehler begangen, zwei Plotpoints
eingebracht, die schlichtweg nicht funktionieren.
Punkt 1:
Zu Beginn sehen wir den Täter während der berüchtigten Fellatio-Szene in seinem Lastwagen sitzen, in der Nähe des Hauses (neben dem Maisfeld).
Zu Beginn sehen wir den Täter während der berüchtigten Fellatio-Szene in seinem Lastwagen sitzen, in der Nähe des Hauses (neben dem Maisfeld).
Hat diese Szene nie stattgefunden? Sitzt tatsächlich Marnie in dem Wagen?
Wie kann sie dann gleichzeitig mit Alex im Auto sitzen und sich erst
auf der Fahrt zu diesem Ort befinden? Ist alles nur ein Produkt ihrer
Einbildungskraft, ein fiebriger Wahntraum? Wäre – oder könnte
– dann nicht alles Folgende auch nur ein Traum sein? (GROSSANGRIFF
DER ZOMBIES lässt grüßen...)
Punkt 2:
Der Killer fährt nach dem Massaker an der Tankstelle mit seinem Lieferwagen davon. Marnie verfolgt ihn mit dem Auto des ermordeten Tankwarts. Plötzlich befindet sich der Laster hinter Marnie (ein sehr gelungener Schockmoment) und rammt sie. Sie überschlägt sich und kriecht schwerverletzt aus dem Wrack.
Der Killer fährt nach dem Massaker an der Tankstelle mit seinem Lieferwagen davon. Marnie verfolgt ihn mit dem Auto des ermordeten Tankwarts. Plötzlich befindet sich der Laster hinter Marnie (ein sehr gelungener Schockmoment) und rammt sie. Sie überschlägt sich und kriecht schwerverletzt aus dem Wrack.
Wie soll das funktionieren? Hat es tatsächlich nur einen Wagen gegeben
(logischerweise den Laster)? Wodurch wurde sie dann verletzt? Und
überhaupt: Wenn Marnie die ganze Zeit über den Lieferwagen
gefahren hat, woher hat sie diese Karre? Parkte er schon die ganze
Zeit in der Nähe, hat sie den Mord an Alex' Familie bereits im
Vorfeld geplant? Wiederum: Alles nur ein Traum??
Mich beschlich auch mitunter das mulmige Gefühl, als habe Aja sich
erst zu dem Kniff am Ende entschieden, als er bereits zwei Drittel
des Filmmaterials runtergekurbelt hatte. Vielleicht hatte er in der
Zwischenzeit FIGHT CLUB gesehen und wollte seinem eigenen Film
posthum eine originelle Note verleihen? Reine Spekulation, aber es
kommt einem beinahe so vor...
Aber vielleicht stelle ich mir auch nur zu viele unnötige Fragen.
Vielleicht sollte ich das Hirn ausschalten und einfach nur die
Spannung und den Nervenkitzel genießen. Allerdings fällt
mir das schwer, denn was ich einem Trashfilm (erneut gemahne ich an
GROSSANGRIFF) verzeihe, das lasse ich einem durchgestylten, auf
Hyper-Realismus getrimmten Werk wie HAUTE TENSION noch lange nicht
durchgehen. Ich verlange ja auch gar nichts Unmögliches: Ein
paar kleine Sorgfältigkeiten im Drehbuch hätten den faux
pas geschickt ausbügeln können. Aber warum soll ich mir
meinen Kopf zerbrechen, damit Aja seinen schonen kann? (Damit er
später dann das völlig überflüssige Remake von
THE HILLS HAVE EYES in Hollywood drehen konnte, deshalb.)
SPOILER ENDE
Fazit: Der Stil ist großartig, die Substanz schwindet. Unterm Strich
bleibt dennoch ein lupeneiner und absolut kompromissloser Terrorfilm
(siehe oben), der, zumindest in seiner ungeschnittenen Fassung,
knappe 90 Minuten blendend unterhält und schwer an die Nerven
geht – was manchmal dasselbe sein kann.
Das bedeutet in Zahlen immer noch dicke 7 von 10 Punkten.
- Pelle -
Die auf dieser Netzpräsenz veröffentlichten Filmbesprechungen haben rein
filmjournalistische Bedeutung. Das verwendete Bildmaterial dient nicht zu Werbezwecken,
sondern ausschließlich zur filmhistorischen Dokumentation.