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DER TOLLWÜTIGE

("La belva col mitra", Italien 1977) R: Sergio Grieco

Der psychotische Schwerverbrecher Nanni Vitale (Helmut Berger) flüchtet mit drei Gesinnungsgenossen aus dem Gefängnis. Auf der Flucht werden Autos geklaut und Tankwarte sinnlos verprügelt. Aber Nanni geht es nicht nur um stumpfe Gewalt, er ist ein Mann mit einem Ziel: Er will Vergeltung, und zwar möglichst blutig. Auf seiner persönlichen Shitlist ganz oben steht der Bullenspitzel Barbaresci (Ezio Marano), der ihn damals in den Knast brachte, sowie der Richter Santini (Claudio Gora), der ihn verurteilte und der Kommissar (Richard Harrison), der ihn verhaftete – welcher zufälligerweise auch der Sohn des besagten Richters ist. Ein gnadenloser Rachefeldzug nimmt seinen Lauf, während Kommissar Santini verzweifelt nach dem Gangster fahndet...
Der Tollwütige
Griecos LA BELVA COL MITRA (was wortgenau übersetzt soviel heißt wie: "Das Raubtier mit dem Maschinengewehr") eilt ein legendenreicher Ruf voraus – soll es sich dabei doch um einen der schmierigsten und asozialsten Italo-Gangsterfilme bzw. Poliziotteschi aller Zeiten handeln. Eines vorweg: Man könnte sagen, das stimmt. Hartgesottene sollten sich den Film in einem Doppelprogramm mit Andrea Bianchis RACHE DES PATEN ansehen – danach hilft auch keine Desinfektions-Dusche mehr, Schutzimpfungen müssen ran!
Erstaunlicherweise funktioniert der Film prächtig, obwohl er alles andere als virtuos in Szene gesetzt wurde. Die Kamera hält über weite Strecken einfach nur uninspiriert drauf und lichtet das Geschehen wenig ansprechend ab. Der Schnitt ist unbeholfen, teilweise sogar katastrophal amateurhaft. Der dünne Plot passt auf einen Bierdeckel, und das Drehbuch ist eine nicht sonderlich spannende und dramaturgisch fehlerhafte Aneinanderreihung episodenhafter Einzelszenen – trotzdem (oder gerade deshalb) weiß das Endergebnis zu gefallen. Gerade der etwas semiprofessionelle Erzählstil unterstützt die ungemein dreckige, sleazige und rohe Grundstimmung der Geschichte. Und trotz des rudimentären Handlungsgerüsts erzielt der Film einige beachtliche Höhepunkte, die schmerzhaft nachhallen.
Vor allem aber ist DER TOLLWÜTIGE eine exzessive Ein-Mann-Show für Helmut Berger. Der hochtalentierte aber leider unterschätzte Österreicher, der sich damals nach den großen Erfolgen mit Visconti (DIE VERDAMMTEN, LUDWIG II.) auf dem Höhepunkt seiner Schmuddelfilm-Phase befand (die in Tinto Brass` SALON KITTY gipfelte) gibt in DER TOLLWÜTIGE auf derart hemmungslose und losgelöste Weise Knallgas, dass man ihm den skrupel- und mitleidslosen Psychopathen mit Kusshand abnimmt. Ich weiß nicht, ob der exzessive Konsum von Kokain bei der Entstehung des Films eine Rolle spielte, der Verdacht liegt jedoch nahe. Die schiere Zügellosigkeit der Figur des Nanni ("Du weißt, ich töte gern!") Vitale lässt alle anderen Darsteller etwas blass aussehen – obwohl vor allem Marisa Mell ihre Rolle hervorragend spielt. Berger tobt wie ein Berserker durch die Kulissen, verteilt Watschen und Tritte, schießt um sich, spuckt, faucht und zischt wie ein Sack voller Vipern.
Besonders ins Gedächtnis frisst sich die Szene, als Nanni und seine Kumpanen den Spitzel Barbaresci und dessen Freundin Giuliana (Marisa Mell) in einem verlassenen Steinbruch durch die Mangel drehen: Vitale vergewaltigt Giuliana brutal, während Barbesci im Hintergrund zusammengekloppt wird. Berger, von der lustlosen Nagelei angeödet, nimmt die Sache selber in die Hand und streift sich eiskalt den Schlagring über. Nachdem er Barbesci halbtot geprügelt hat, heißt er seine Spießgesellen flugs eine Grube ausheben, schleift den Unglücklichen hinein und lässt ihm eine "Sonderbehandlung" zukommen, die den armen Schauspieler Ezio Marano in seine ganz persönliche GEISTERSTADT DER ZOMBIES schickt, sechs Jahre bevor deren Tore von Lucio Fucli aufgestoßen wurden... Krass!
Trotz allem gelingt es Grieco zwischendurch, Berger zu entdämonisieren und ihn als schwaches menschliches Wesen zu portraitieren, etwa wenn er sich von seiner Schwester Geld pumpt oder mit einem jüngeren Kriminellen, der ihn anhimmelt, auf fast schon homoerotische Weise umspringt. Auch diese Feinheiten gehen aber weniger auf das Konto des Skripts, als auf Bergers formidable Leistung.
Die Darstellung der Gewalt ist auf unangenehme Art ungeschminkt und abstoßend, inklusive einer geschmacksunsicheren Rasierklingenfolter der nackten, minderjährigen Tochter (Marina Giordana) von Richter Santini. Besonders beim Showdown, wo es endgültig ans Eingemachte geht, durchstößt der Film alle Grenzen – angemessen unterstützt durch visuelle Spielereien, wie dem Einsatz von wackeligen Handkameraaufnahmen und der etwas inflationären Verwendung von Zeitlupe.
Zugutehalten muss man dem Machwerk übrigens, dass es am Ende weniger reaktionär und vorhersehbar daherkommt, als etliche seiner artverwandten Genrenachbarn. Rache ist zwar immer Blutwurst, muss aber manchmal kalt serviert werden.
Alles in allem funktioniert DER TOLLWÜTIGE denn auch eher als Terrorfilm im Stil von LAST HOUSE ON THE LEFT oder Bavas WILD DOGS, denn als handelsüblicher Poliziottescho.
Unter den Schauspielern strahlt neben dem bravourösen Berger vor allem die schöne Marisa Mell (GEFAHR: DIABOLIK!) in hellem Glanze – Bergers Landsmännin spielt die Giuliana, die zunächst gegen ihren Willen von Nanni missbraucht wird und hinterher in einem angeekelt-faszinierten Abhängigkeitsverhältnis zu ihm steht, mit überzeugender Zerrissenheit.
Richard Harrison (PROVINZ OHNE GESETZ) präsentiert sich hier als Maurizio Merli-Klon, nur komplett mit echtem Porno-Schnäuzer. Er legt eine solide aber wenig beeindruckende Vorstellung hin. In jüngeren Lebensjahren trat Harrison in etlichen Sandalenfilmen und Italowestern auf, später erlangte er als Darsteller in zahlreichen drittklassigen US-Ninja-Streifen einen zweifelhaften Ruf.
Nello Pazzafini, der mich immer ein wenig an Danny Trejo erinnert, spielt einen von Nannis prügelnden Knastbrüdern. Maria Pascucci absolviert einen Kurzauftritt als Nannis Schwester und steuert immerhin eine der denkwürdigsten Dialogzeilen des Films hinzu: "Er war schon als kleiner Junge nicht ganz richtig im Kopf. (...) Er war ein schreckliches Kind!"
Berger, Berger, noch einmal... Neben dem seligen Klaus Kinski gibt es wohl keinen Euro-Star, der eine derart komplexe, intensive und (vor allem für Talkshow-Master) unberechenbare Persönlichkeit aufweist. Immer gut für einen schnellen Skandal, fleischlichen Exzessen und harten Drogen nicht abgeneigt, bei öffentlichen Auftritten eine Mischung aus überdrehter Tunte und gefährlichem Soziopathen. Neben seiner unvergesslichen Darstellung in DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY, blieb er mir als mörderischer, unterkühlter Arzt in Jess Francos FACELESS in guter Erinnerung. Seine beeindruckende Performance in DER TOLLWÜTIGE gehört sicherlich zu den Höhepunkten seiner vielseitigen Karriere. Bei allen Diva-Allüren ist Berger trotzdem immer Mensch geblieben und wirkte u.a. in Schlingensiefs DIE 120 TAGE VON BOTTROP oder einem Videoclip der "Hamburger Schule"-Band BLUMFELD mit.
Dem Minimalismus des Gesamtbildes passt sich auch der vorzügliche Keyboard-Score von Umberto Smaila meisterlich an: Das eingängige und sehr simpel-effektive Titelthema fräst sich in die Gehörgänge und bleibt noch Stunden nach Filmgenuss im Gedächtnis haften. Ein gutes Beispiel dafür, dass weniger oft mehr ist.
Auch Quentin Tarantino hält große Stücke auf dieses obskure Kleinod, das Exploitation in seiner lupenreinsten Ausprägung bietet. Nicht nur lässt er Bridget Fonda und Robert de Niro in einer Szene von JACKIE BROWN den Film im Fernsehen anschauen ("Ist das Rutger Hauer?" "Nein, das ist Helmut Berger!"), der berüchtigten Rasiermesser-Szene im Finale setzte er auch in seinem Skript zu NATURAL BORN KILLERS ein Denkmal ("I cut her fuckin´ tits off!"). Obendrein dankt er Berger in den Credits zu JACKIE BROWN.
Ein schmutziger kleiner Italo-Reißer und eine zu Unrecht in Vergessenheit geratene Perle des Schundkinos. Genrefans sollten allemal zugreifen, Einsteigern sei der Genuss dieser verkommenen Südfrucht nur mit Einschränkung zu empfehlen – die sollten vielleicht mit Lenzis BERSERKER und Bianchis DIE RACHE DES PATEN anfangen, bevor sie sich mit LA BELVA COL MITRA endgültig Herpes und Schanker einfangen...
Lieblingszitat:
"Los, Bruno! Hol jetzt den Kalk!"
- Pelle -





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